Jenseits von Feuerland: Roman
sie seine Stimme vernahm, überkam sie eine Ahnung, wer vor ihr stand. Sie erschauderte.
»Na, kleine Rita«, fragte Esteban Ayarza gedehnt. »Ganz allein unterwegs?«
Emilia ging die Reihen der Toten auf und ab. Immer mehr wurden aus dem Wasser oder dem Schiffswrack geborgen, mit Booten an Land geschafft und an der Mole aufgebahrt.
Am Anfang war es für Emilia unerträglich gewesen, die Leichname zu betrachten, und sie hatte die Augen zusammengekniffen. Doch nun zwang sie sich dazu, sie wieder zu öffnen. Noch unerträglicher als der Anblick der Toten war die Ungewissheit. Wenn Arthur auf diesem Schiff gewesen war und zu den Ertrunkenen gehörte, dann musste sie der Wahrheit ins Auge sehen.
Auf der Mole wurde es eng. Immer mehr Menschen strömten hier zusammen, von Entsetzen oder Sensationslust angelockt, und ihren Worten entnahm Emilia die Gründe, wie es zu dem Schiffsunglück gekommen war. Die Küste war heimtückisch und der Kapitän offenbar nicht genug geübt gewesen, die gefährlichen Riffe zu umschiffen.
Emilia ging Schritt für Schritt weiter. Ihre Füße fühlten sich taub an, aber sie konnte einfach nicht stehen bleiben. Bei jedem Toten, dem sie ins Gesicht sah, hatte sie Angst, dass es Arthur sein könnte – und bei jedem, den sie hinter sich ließ, schämte sie sich der Erleichterung, weil es ein Fremder gewesen war. Jemand anderer würde um ihn weinen, jemand anderer um ihn trauern … weil jemand anderer ihn geliebt hatte.
Der Anblick der vielen Leichen wurde immer abstoßender, und mehrmals schlug sie sich die Hände vor den Mund. Aber sich umdrehen und fortgehen – das konnte sie nicht. Manche Gesichter waren blau verfärbt – jene, die ertrunken waren. Andere waren kalkweiß – bezeugend, dass diese Menschen Opfer der Kälte geworden waren.
Zwei Dutzend Tote hatte sie nun schon hinter sich gelassen, und die Reihe nahm immer noch kein Ende. Junge wie alte Männer lagen hier, Frauen und auch zwei Kinder. Am Gürtel von einem der Männer hing eine Waschpfanne, ein Sieb und eine Spitzhacke – wahrscheinlich war er ein Goldsucher. Gewiss war er mit vielen Träumen aufgebrochen, war von hochtrabenden Versprechungen, Abenteuerlust und Gier nach Reichtum angelockt worden. Und nun lag er reglos da und würde nie wieder auf etwas hoffen können, würde nie wieder von einem besseren Leben träumen.
Emilia wusste nichts von diesem Mann, trotzdem glaubte sie, ihn zu kennen. Dies hier war ein Mann, der die Angst vor der Fremde bezwungen, seine Heimat aufgegeben und sämtliche Willenskraft zusammengenommen hatte, um sich irgendwo ein neues Leben aufzubauen. Tief vertraut war er ihr plötzlich in diesem Trachten, und während sie ihn noch anstarrte, verschwamm das Bild vor ihren Augen ob all der Tränen, die über ihre Wangen perlten.
Sie schluchzte bitterlich um diesen fremden Mann und hatte endgültig keine Kraft mehr, um auch nur einen Schritt weiterzugehen. Sie sah den eigenen Mut in ihm, die eigene Stärke und fühlte sich zugleich an sämtliche Momente erinnert, da sie gescheitert war, da die Verzagtheit ihr beinahe allen Lebensmut geraubt hatte. Ihre Schultern bebten, so heftig schluchzte sie.
»Kannst du mir bitte sagen, warum du um einen anderen Mann weinst?«
Emilia zuckte zusammen. Sie traute ihren Ohren nicht, als sie plötzlich die wohlbekannte Stimme vernahm. Sie fuhr herum und konnte kurz nichts erkennen, weil immer noch Tränen ihren Blick verschleierten. Doch dann wurde das Bild klar, und sie sah Arthur vor sich stehen – ohne die geringste Ähnlichkeit mit einem Ertrunkenen: Sein blondes Haar war vom Wind zerzaust, die Kleidung heil und trocken, sein Kinn hochmütig gereckt.
»Also, warum weinst du um diesen fremden Mann?«
Emilia konnte sich kaum rühren. »Ich dachte, du wärst tot!«, stieß sie aus.
Eine Weile taten sie nichts anderes, als sich einfach anzustarren, dann reifte in Arthur Verstehen. Er nahm sie am Arm und zog sie von der Mole fort. Sie folgte ihm mechanisch und erschauderte noch mehr, als sie weitere Tote sahen. Auch sein Blick war bestürzt, doch als sie die Mole verlassen hatten und er sich wieder an sie wandte, wirkte er gleichmütig. »Wenn du mich loswerden willst, sag es einfach, und du sieht mich nie wieder«, sagte er leise. »Dafür muss ich nicht erst ertrinken.«
Ihre Erleichterung wandelte sich augenblicklich in Ärger, weil er ausgerechnet in diesem Moment über sie zu spotten wagte. Sie wollte die Hand heben und ihm am liebsten ins
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