Jenseits von Feuerland: Roman
ihr. Sein Gesicht war ihr nicht länger vertraut, sein rötlich braunes Haar war plötzlich blond, und zu dem Gefühl von Ohnmacht, nicht zu ihm laufen zu können, gesellte sich Verwirrung, ob dieser Mann denn überhaupt noch Manuel war oder nicht vielmehr ein Fremder.
Als sie an einem Morgen von diesem Traum aufschreckte, brannten Tränen in ihren Augen. Sie blickte sich um und musste sich erst mühsam vergegenwärtigen, wo sie sich befand. Heftig ging ihr Atem, in ihrem Mund schmeckte es säuerlich.
»Hast du schlecht geträumt?«
Sie fuhr herum und sah Rita nicht weit von ihr hocken, scheinbar ebenfalls von dunklen Träumen wach gehalten. Obwohl das Licht noch trübe war, hielt sie ihr Buch auf dem Schoß und strich über die Seiten.
Emilia schüttelte den Kopf und schluckte gegen den üblen Geschmack in ihrem Mund an.
»Es ist nicht so wichtig«, sagte sie, »es …«
Es zählt nicht mehr, wollte sie hinzufügen, obwohl sie wusste, dass sie log und dass es nie aufhören würde, weh zu tun. Doch ehe sie es aussprechen konnte, ertönte laut Pedros Ruf.
»Punta Arenas vor uns!«
Emilia sprang auf und stürzte nach oben. Die frische Morgenluft belebte ihre steifen Glieder und ließ ihre Tränen trocknen. Sie hastete über das Deck, hatte nun Pedro erreicht und starrte in dieselbe Richtung wie er. Zunächst konnte sie keine Stadt ausmachen, nicht einmal eine kleine Siedlung, nur wildes, urwüchsiges Land. Noch in den letzten Tagen hatten sie hohe Berge gesehen. Hier waren sie in wellige, mit schwarzem Gestrüpp, Sauerdorn und Rosmarin überwucherte Hügel zerflossen, die die endlose Weite und flache Steppe hinter Punta Arenas ankündigten.
»Ich … ich sehe nichts!«
»Warte nur, bis die Flut zurückgeht!«
Wie sie mittlerweile von Pedro wusste, unterlag Punta Arenas dem steten Wechsel von Ebbe und Flut. Schon auf dem bisherigen Weg hatte sie in manchen Buchten beobachtet, wie das Wasser am Abend an die zehn Meter hoch anstieg, um gegen Morgen wieder zu sinken und kreidige, von Dünen und Küstengestrüpp umgebene Strände bloßzulegen. In Punta Arenas, hatte Pedro erzählt, gab es eine Hafenpromenade, die bei Ebbe weit über dem Meeresspiegel lag und bei Flut fast vom Wasser überschwemmt wurde.
»Ich sehe immer noch nichts!«, rief sie, doch Pedro grinste nur, und nach einer Weile glaubte sie ihn endlich auch zu erkennen – diesen schmalen Streifen, den man mit viel gutem Willen als Häuserkette ausmachen konnte. Immer breiter wurde er nun, immer mehr Häuser daraus, Menschen, noch klein wie Ameisen, und eine Unmenge von Schiffen. Schon in Corral hatte sie viele auf einem Fleck gesehen – hier waren es noch mehr: Schaluppen wie die ihre und Fischerkähne, aber auch riesige Hochseedampfer, kleinere Küstendampfer, Wollfrachter und Brückenkähne, die an ihren Schäkeln nebeneinanderstanden und auf den Wellen sanft schaukelten. Eines der größeren Schiffe hatte so wenig Ballast, dass die Schiffsschraube zur Hälfte aus dem Wasser ragte. Vom Rumpf war längst die einst grüne Farbe abgeblättert. Beides kündete von einer langen Reise, und Emilia konnte eine Weile lang ihre Augen nicht von diesem Schiff lassen. Ob es vielleicht aus Europa, gar aus Deutschland kam und ob sie irgendwann selbst auf einem solchen Schiff reisen würde und nicht auf der Schaluppe? Nun, da sie die Tage auf dem Meer überlebt hatte, machte ihr die Vorstellung der langen Überfahrt keine Angst mehr – umso eindringlicher tat das die Frage, wie sie sie bezahlen sollten.
Eben gab Pedro den Befehl, die Fahne zu hissen – nicht irgendeine Fahne, wie er erklärte, sondern die Signalfahne, mit der jedes Schiff die Hafenmeisterei um Erlaubnis zum Anlegen bat. Auf welche Weise ihnen diese Erlaubnis erteilt wurde, konnte Emilia nicht erkennen, aber wenig später liefen sie im Hafen ein. Die großen Schiffe konnten nicht an der Mole ankern, sondern mussten mit Beibooten verlassen oder bestiegen werden. Doch die Schaluppe war klein genug, um sie an einem der Pfosten festzumachen.
»Rita!«, rief sie, als die Schaluppe nahezu stillstand. »Rita!«
Trotz aller Furcht war Rita bereits lautlos an Deck gekommen und stand nun mit ihren geschnürten Bündeln hinter ihr. Die Aussicht, der Nähe von all den Männern zu entkommen, hatte sie wohl mutig gemacht – wobei die Erleichterung darüber nicht lange währte, angesichts der vielen fremden Menschen hier im Hafen. Pedro streckte die Arme nach den beiden Frauen aus, und ehe Emilia
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