Jenseits von Feuerland: Roman
sich’s versah, hatte er erst Rita, dann sie auf die hölzerne Plattform gehoben. Nach mehr als drei Wochen hatten sie nun zum ersten Mal wieder festen Boden unter den Füßen, doch Emilia konnte es kaum genießen, hatte vielmehr den Eindruck, ihre Beine würden ihr wie in ihrem Traum nicht gehorchen. Alles schien viel zu schnell gegangen zu sein: Sie hatte gar keinen richtigen Abschied von der Schaluppe nehmen können! So klein und eng, so alt und stinkend sie auch sein mochte – sie war in den letzten Tagen doch ein Stück Heimat inmitten von unwegsamer Fremde gewesen.
Emilia umklammerte ihr Bündel, das Rita ihr gereicht hatte. Möwen kreisten über ihren Köpfen; der gleiche brühige, fischige Gestank wie in Corral breitete sich aus. Verloren blickte sich Emilia um. Im Hafen herrschte unglaubliche Geschäftigkeit, und schon an den wenigen Sätzen, die rund um sie ertönten, erkannte sie, dass Pedro recht gehabt hatte: In Punta Arenas schienen alle Sprachen dieser Welt gesprochen zu werden.
Obwohl sie das eine oder andere Wort verstand, steckte das bunte Treiben sie nicht an, und auch Rita hatte ihre Augen starr aufgerissen – wie immer, wenn sie von etwas überfordert war und sich am liebsten verkrochen hätte.
Doch da legte Pedro erstaunlich sanft seine riesigen Pranken auf ihre Schultern.
»Wenn ihr Geld verdienen wollt, kann ich euch helfen«, meinte er. »Ich habe hier einen Freund – einen Gehilfen des Hafenmeisters. Er weiß nicht nur von jedem Schiff, das kommt und geht, sondern er kennt Punta Arenas wie seine Westentasche. Gewiss kann er euch sagen, wo suchende Hände gebraucht werden. Wenn ihr wollt, kann ich euch gerne zu ihm bringen.«
»Ich … wir sind dir so dankbar …«, stammelte Emilia.
»Von wegen!«, rief Pedro. »So gut wie in den letzten Wochen habe ich nie gegessen! Gib nie das Kochen auf, Emilia, hörst du?«
Und dann plötzlich umfasste er sie wieder um die Taille, noch länger als vorhin, da er sie aus der Schaluppe gehoben hatte. Er hob sie hoch, drückte sie an sich, und sie spürte seine stacheligen Barthaare in ihrem Gesicht. Kurz glaubte sie, er würde sie zerquetschen, aber dann genoss sie diese Ahnung von Nähe und Schutz. Als er sie wieder losließ, fühlte sie sich zwar immer noch ein wenig verloren, und ihre Zähne klapperten, weil sie so fröstelte, aber sie fühlte sich gestärkt genug, sie entschlossen zusammenzubeißen.
Es war ein Segen, die erste Wegstrecke mit Pedro zurückgelegt zu haben – diesem gutmütigen, hilfsbereiten Riesen –, aber nun würden, ja, nun mussten sie es alleine schaffen!
Pedro hatte nicht zu viel versprochen. Jener Gehilfe des Hafenmeisters – mit dem Vornamen hieß er Camillo, den Nachnamen nannte er nicht – war zwar ungemein geschwätzig und musterte sie so unverhohlen, dass Rita wie so oft hilfesuchend nach Emilias Hand griff, aber er hatte jede Menge gute Ratschläge auf Lager.
Wie Pedro bereits berichtet hatte, wurden in der Stadt nicht nur viele Häuser gebaut, es gab auch immer mehr Herbergen, wo sich viele Reisende auf dieser Zwischenstation ausruhten. Nach Wochen auf dem Ozean waren ihre Bedürfnisse denkbar gering und leicht zu erfüllen – es genügten ihnen ein weiches, sauberes Bett, ein Bad und ordentliches Essen.
Eine dieser Herbergen nun wurde von einer gewissen Agustina Ayarza geführt, nicht mehr die Jüngste und darum vom steten Ansturm der Gäste überfordert. Bestimmt könne sie jede Hilfe gut gebrauchen. Wie viel Lohn sich dabei herausschlagen ließ, wüsste er nicht, in jedem Fall gehörte Agustina, hilflos, wie sie war, nicht zu den berechnenden, verschlagenen Schlangen, die in den kleinen Gässchen lauerten und leichtgläubige Frauen ausbeuteten.
Nachdem Pedro sie zu Camillo gebracht hatte, hatte er sich endgültig von ihnen verabschiedet, so dass sie nun ganz alleine den Weg suchen musste, den Camillo ihnen beschrieben hatte, ehe er selbst wieder Richtung Hafen schlenderte.
Rita fiel es schwer, ihre Schritte in Richtung dieser vielen Häuser – vor allem in Richtung dieser vielen Menschen und des Lärms, den sie machten – zu setzen, aber als Emilia ungeduldig an ihr zerrte, wagte sie es nicht, sich ihr zu widersetzen. Emilia hatte wieder einmal diesen kalten Blick und das starre Gesicht aufgesetzt, vor dem sich Rita noch mehr fürchtete als vor Fremden: Unglaublich entschlossen wirkte sie dann, bereit, es notfalls mit der ganzen Welt aufzunehmen, und zugleich wie … tot. Diese Emilia
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