Jenseits von Feuerland: Roman
tat alles, was nötig war, und hielt sämtlichen Gewalten stand – nur lächeln, das konnte sie nicht.
Nun, auch Rita stand nicht der Sinn nach einem Lächeln. Während die Sonne, hinter diesigen Wolken nur bleich, immer höher kroch, wurde das Treiben noch hektischer. Kaum einen Schritt konnten sie gehen, ohne einem Ellbogen ausweichen zu müssen, kaum suchend stehen bleiben, ohne fast über den Haufen gerannt zu werden. Zumindest war es in Hafennähe erstaunlich leicht, sich zurechtzufinden. Die Häuser waren klein und windschief gebaut, aber an geraden, nahezu rechtwinkeligen Straßen. Nach dem Leben auf der kleinen Schaluppe wirkte zunächst alles groß, nahezu riesig, doch nach einer Weile stellte sich Punta Arenas als ziemlich übersichtlich heraus, gab es doch nur eine breite Hauptstraße.
Nicht lange und sie stießen tatsächlich auf ein Schild, dessen Holz völlig verwittert war und auf dem mit verblichener Schrift »Casa Ayarza« stand. Wenn der Zustand des Schildes auf den der Herberge deutete, dann musste diese armselig und heruntergekommen sein, und tatsächlich taten Rita und Emilia gut daran, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen. Schon auf der Türschwelle schwappten ihnen übelste Gerüche entgegen: nach Schweiß, Schlamm und verbranntem Essen. Es gab keinen richtigen Fußboden – über den Eingangsbereich war noch notdürftig ein Holzbrett genagelt, dann erwartete sie gestampfte Erde wie in einem Pferdestall –, an den Wänden kroch Schimmel hoch, und in jeder Ecke klafften Rattenlöcher.
Rita wollte zurückweichen, aber Emilia hielt sie fest und ging entschlossen auf die Gaststube zu. Der üble Gestank hing dort wie eine zum Schneiden dicke Wolke. Die Holztische waren krumm, Tischtücher fehlten, Essensreste, die schon halb verfault schienen, waren über dem Boden verstreut. Die Männer, die rund um die Tische saßen, hatten ungepflegtes Haar und Bärte wie Pedro, trugen dreckige Lumpen und grölten ungeniert.
»Hier kehrt offenbar nur übelstes Pack ein«, murmelte Emilia naserümpfend. »Gäste mit nur ein bisschen mehr Geld würden eine bessere Herberge aufsuchen.«
Vor allem eine saubere, dachte Rita nicht minder angewidert. Wenn schon der Speisesaal so verdreckt war, würde man sich gewiss auch in den Unterkünften rasch die Krätze holen. Sie wollte hastig ins Freie fliehen, aber Emilias Griff blieb unerbittlich. »Warte!«, befahl sie mit dieser eisigen Stimme.
Rita gehorchte, doch ihre Ohren schienen zu platzen wegen des lauten Geschreis. Zuerst verstand sie kein Wort, dann aber, dass die Männer allesamt nach Essen und Trinken schrien, auf das man hier scheinbar ewig wartete. Irgendwann kam eine kleine, schmale Frau in die Stube gehuscht, die kaum hochblickte und Emilia und Rita gar nicht wahrnahm. Ihr Gesicht wirkte verhärmt, die Hände runzelig, der graue, schüttere Haarknoten hatte sich aufgelöst, so dass die Strähnen klebrig über den mageren Schultern hingen.
Das musste Agustina Ayarza sein.
Rita hielt Emilia zurück, als sie auf die Frau zutreten wollte. »Denkst du wirklich, dass wir hier … arbeiten sollen?«
Sie stand mittlerweile auf Zehenspitzen, um nur so wenig wie möglich mit dem dreckigen Boden in Berührung zu kommen.
»Nun«, meinte Emilia und schluckte energisch – wohl um den eigenen Ekel zu unterdrücken, »ich glaube, in ganz Punta Arenas gibt es keinen Ort, wo es mehr Arbeit gibt als hier.«
Emilia befreite sich aus Ritas Griff und stellte sich Agustina in den Weg. In ihren Händen hielt diese einen Krug, aus dem einen dunkle, ranzig riechende Flüssigkeit schwappte.
»Senyora Ayarza!«
»Gleich … gleich … Ich kann heute Rindfleischeintopf anbieten.«
»Wir wollen nichts essen, wir wollen …«
Agustina drängte sich einfach an Emilia vorbei. »Gleich … gleich …«, murmelte sie wieder, dann war sie schon hinter einer kleinen Tür verschwunden – wahrscheinlich lag die Küche dahinter.
Rita seufzte. Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, fühlte sie sich unendlich müde. »Emilia, wir können doch unmöglich …«
Sie verstummte, als Emilia die Hand hob, und sah dann ungläubig zu, wie die Freundin entschlossen auf einen der Tische zutrat, das Geschirr abräumte, das noch von den gestrigen Gästen stehen geblieben war, und die schreienden Männer, die ob ihres Anblicks verwundert hochblickten, einfach ignorierte. Mit einem Stoß dreckiger Teller folgte sie Agustina zu der kleinen Tür, die offenbar zur Küche führte,
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