Jenseits von Feuerland: Roman
zu dieser Zeit zu einem Aufstand zusammen, ermordeten nicht nur den Gouverneur, sondern auch alle Geistlichen. Nachdem der Aufstand niedergeschlagen worden war, ging es langsam bergauf. Noch mehr Siedler kamen – vor allem Mestizen von der Insel Chiloé, die erfolgreich Kartoffeln anbauten –, und auch einige freigelassene Sträflinge entschieden sich zu bleiben, errichteten die ersten steinernen Häuser und begannen Schafe zu züchten. Von der Aussicht, damit den Lebensunterhalt zu verdienen, wurden auch Deserteure aus Argentinien angelockt, die sich hier ein freies Leben erhofften, und ihnen folgten Indianer aus der patagonischen Steppe – vor allem vom Stamm der Aónikenk –, die sich in der Nähe der wachsenden Siedlung niederließen und mit den Einwohnern von Punta Arenas Tauschgeschäfte machten. Für eine Flasche Branntwein waren manche von ihnen bereit, alles zu geben, was sie hatten – vor allem ihre Quillangos, Mäntel aus Guanakofell, die während der langen Winter wärmten. Vor fünfzehn Jahren schließlich war Punta Arenas zur freien Hafenstadt erhoben worden, und die Schiffe, die von Europa kamen oder dorthin unterwegs waren, machten fast allesamt hier halt.
»Das hat noch mehr Siedler angelockt«, schloss Pedro, »denn nun brauchte es Gasthäuser, Bars und Herbergen, Schiffsbauer und Reeder. Jedes Mal, wenn ich dorthin komme, ist die Stadt ein wenig größer geworden und die Sprachen, die dort gesprochen werden, zahlreicher. Viele Auswanderer, die aus Nordamerika und Europa gekommen sind und eigentlich nach Kalifornien reisen wollten, um dort nach Gold zu suchen, sind in Punta Arenas geblieben, weil ihnen das Geld zur Weiterreise ausgegangen ist, haben Geschäfte aller Art gegründet und fühlen sich mittlerweile dort heimisch.«
Nachdenklich runzelte Emilia die Stirn und konnte sich der Befürchtung nicht erwehren, dass dieses Schicksal möglicherweise auch ihr und Rita blühen würde.
»Aber wenn sie genügend Geld verdient haben – warum ziehen sie dann nicht weiter?«, fragte sie.
Pedro zuckte die Schultern. »Nun, weil sie sich an das Leben dort gewöhnt haben. Gewiss, an den grauen, nebeligen Tagen fühlt man sich in Punta Arenas wie am Ende der Welt. Doch die Stadt hat ihre Vorzüge: Sie hat keine Vergangenheit – und niemand fragt dort nach der ihrer Bewohner. Genau genommen, weiß auch niemand, was die Zukunft bringen wird. Im Augenblick jedenfalls geht es dort sehr bunt, sehr laut und sehr dreckig zu.«
Er nickte entschlossen, bekräftigend, dass all das Eigenschaften waren, die ihm zusagten und die die Stadt für ihn zu einer liebenswerten machten. Emilia erging es ähnlich. Auf Dreck und Lärm konnte sie verzichten und die Aussicht, länger als nötig hier festzuhängen, war erschreckend – aber was das Fehlen von Vergangenheit und Zukunft anbelangte, passte wohl kein Ort besser zu ihr als Punta Arenas.
In den Nächten, die folgten, schlief Emilia unruhig und erwachte meist schon im frühen Morgengrauen. In der ersten Zeit auf der Schaluppe hatte der harte Boden sie wach gehalten. Nun, da sie sich an ihn gewöhnt hatte und die kräftige Seeluft sie eigentlich todmüde machte, wurde sie von Träumen verfolgt. Sobald sie die Augen aufschlug, verdrängte sie jeden Gedanken daran und wollte gar nicht erst versuchen, sie zu deuten, doch kaum schlief sie ein, kehrten sie zurück. Immer wieder tauchte ihre Mutter Greta darin auf, zwar dünn und weiß wie ein Gespenst, aber höchst lebendig, kaum dass sie ihren Mund aufmachte und lachte – voller Spott, Hohn und Verachtung.
»Ich habe es dir doch schon immer gesagt«, raunte sie auf diese ihr eigentümliche Weise. »Setz nicht auf die anderen Siedler! Am Ende stehst du ganz allein da!«
Emilia wollte widersprechen, ihr vorhalten, dass die anderen Siedler sie nicht enttäuscht oder vertrieben hatten, sondern dass sie freiwillig gegangen war – und zwar ihretwegen und wegen Viktor. Doch ihre Lippen waren wie zugenäht. Und sie war im Traum nicht nur unfähig zu sprechen – sie konnte auch nicht gehen. Einmal erschien Manuel hinter Greta, hob die Arme und winkte ihr zu. Sie weinte vor Erleichterung, nicht nur, weil sie ihn sah, sondern weil er ihr die Flucht nicht zu zürnen schien, sie vielmehr anlächelte. Doch als sie auf ihn zustürzen wollte, gehorchten ihre Füße nicht, und während sie noch darum kämpfte, Macht über den Körper zu gewinnen, wurde Manuel so durchsichtig wie Greta, ja, wurde irgendwie eins mit
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