Jenseits von Feuerland: Roman
Norden kamen, um auf Feuerland zu brüten. Geier und Raubvögel kreisten am Himmel, Sperlinge und Rebhühner raschelten im Gebüsch. Einzig von Kormoranen und Schwarzhalsschwänen war nichts zu sehen – diese brüteten näher am Meer.
Emilia deutete auf einen Schwarm dunkler Vögel, der über sie hinwegflog. »Die Vögel, so heißt es, haben eine eigene Sprache, in der sie sich unterhalten. Sie tauschen sich aus, um den Weg nach Feuerland und wieder zurück zu finden.«
»Gleicht die Sprache mehr dem Deutschen oder dem Spanischen?«, fragte Arthur vermeintlich ernsthaft.
Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht sprechen sie so merkwürdig wie die Waliser«, schlug sie lächelnd vor und konzentrierte sich wieder auf den Weg.
Auch wenn er vor allem dem Zweck diente, Arthur zu bestrafen, begann sie Gefallen an dem Ausritt zu finden. Das Land im südlichsten Teil Chiles hatte sie bis jetzt immer nur als wild und weit befunden, als vorübergehenden Stützpunkt, der ihr nie Heimat werden konnte. Doch nun erkannte sie den Reiz, der in dieser Einöde lag. Hier gab es nichts bis auf die kargen Pflanzen, die endlose Weite und die kreischenden Vögel – auch keine Vergangenheit, keinen Schmerz, keine unerfüllte Liebe. In diesem riesigen Land war sie nur ein winziger Punkt, und es schien kein Gewicht zu haben, wer sie war, woher sie kam und dass sie aus Blutschande und Gewalt hervorgegangen war. All das wehte der Steppenwind fort, dieser wilde, ungebärdige Wind, dessen Stöhnen manchmal spöttisch klang und manchmal lockend, manchmal zornig und manchmal traurig, manchmal peitschend und manchmal zärtlich.
»Woran denkst du?«
Emilia schreckte hoch und schalt sich, dass sie für einen Moment keine Kontrolle über ihre Gesichtszüge gehabt hatte. Womöglich hatte er sie aufflackern gesehen – diese Sehnsucht, alles, was sie bedrückte, einfach mit dem Wind fahren zu lassen.
»Ich dachte an die ersten Menschen, die nach Patagonien kamen und hier lebten«, sagte sie schnell. »Ich glaube, vor vierhundert Jahren haben einige Spanier eine Kolonie in der Nähe gegründet. Doch als kein Transportschiff mit frischen Lebensmitteln kam, sind sie kläglich verhungert. Der dortige Hafen heißt bis heute Puerto del Hambre, Hungerhafen. Nach ihnen kamen zweihundert Jahre lang überhaupt keine neuen Siedler mehr.«
»Und dann?«, fragte er und schien tatsächlich interessiert.
Emilia zuckte die Schultern. »Im achtzehnten Jahrhundert gab es einige Expeditionen von Buenos Aires aus – zuvörderst, um Salz aus den Lagunen zu holen. Und dann kamen Robbenjäger, um die Tiere an den Küsten Feuerlands und auf den Falklandinseln zu jagen.«
Er nickte. »Bist du hier aufgewachsen?«, fragte er unwillkürlich. »Stammst du von hier? Du sprichst sehr gut Deutsch, aber hast du nicht auch erwähnt, dass du in Chile geboren wurdest?«
Die vielen Fragen überraschten sie – zum einen, weil in einer so jungen, wilden Stadt wie Punta Arenas für gewöhnlich niemand nach der Vergangenheit fragte, sondern für jeden nur das Jetzt zählte, zum anderen weil er kein Mann zu sein schien, der sich ernsthaft für eine Frau interessierte. Aber wahrscheinlich tat er das auch gar nicht – möglicherweise war das nur seine Taktik, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie überlegte kurz, ob sie ihm Lügen auftischen oder einfach die Wahrheit sagen sollte, entschied dann jedoch, geheimnisvoll darüber hinwegzugehen.
»Dort!«, erklärte sie rasch. »Dort müssen wir hin.«
Sie hatte ihm eine Lagune versprochen, doch der armselige Tümpel, auf den sie zusteuerten, wirkte eher wie eine große Pfütze, die von der Schneeschmelze oder vom letzten Regen zurückgeblieben war. Nicht einmal die üblichen Vogelscharen stakten darin.
Arthur schaute entsprechend skeptisch auf die schmutzigbraune Brühe. »Und hier soll es Fische geben?«, fragte er verwirrt.
Sie überlegte hastig, wie sie sein Misstrauen zerstreuen konnte. Dann aber fiel ihr ein, dass sie das gar nicht musste.
»Ach weißt du«, setzte sie mit kokettem Unterton an, »vielleicht will ich gar keine Fische fangen.«
»Sondern?«, fragte er überrascht.
Sie machte Anstalten, vom Pferd zu steigen, doch er war schon vor ihr auf den Boden gesprungen und bot ihr seine Hand, um ihr zu helfen. Sie ergriff sie nur ungern, unterdrückte aber den Widerwillen und lachte vielmehr girrend auf, als er ihre Taille umfasste und sie sachte absetzte. Er hielt sie länger fest als nötig, und sie musste alle
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