Jenseits von Timbuktu
hingen seitlich schlaff herunter, die Hände berührten â die hellen Innenseiten nach oben â den Boden. Tränen strömten ihr aus den groÃen, dunklen Augen, ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt.
Anita beugte sich zu ihr hinunter. »Was ist mit Ihnen?«, fragte sie leise auf Englisch. »Kann ich Ihnen helfen?«
Die Frau antwortete nicht, bewegte lediglich das ausgestreckte Bein. Es schurrte über den Boden, und betroffen stellte Anita fest, dass die Frau eine Prothese trug und dass die Haut am Ansatz zum Beinstumpf blutig gescheuert war. Sie setzte erneut an. »Wie heiÃen Sie?«
»Busi«, wisperte die Frau.
Anita ging vor ihr in die Hocke und nahm ihre Hand. »Was ist geschehen, Busi? Haben Sie sich wehgetan? Brauchen Sie Hilfe?«
Ein heftiges Kopfschütteln und ein erneutes Aufschluchzen waren die Antwort. Anita erwog, Jonas oder Jill per Handy zu holen, aber dann wisperte Busi ein paar Worte auf Englisch.
»Was haben Sie gesagt? Ich habe es nicht verstanden.« Anita neigte ihr den Kopf zu.
»Mein Baby. Jabulile â¦Â« Die Zulu weinte laut und murmelte dann ein paar Worte. Anita wartete geduldig, bis sich Busi so weit gefasst hatte, dass sie weitersprechen konnte. »Jabulile ist verschwunden. Schon gesternâ¦Â«
»Jabulile ist Ihre Tochter? Wie alt ist sie?« Dann fiel ihr wieder das süÃe Mädchen mit den Kirschaugen ein, das an ihrem ersten Tag auf Inqaba ihren Vater Ziko begleitet hatte. Sie erschrak.
»Zehn ⦠Jahre«, stammelte Busi. »Sie ist von der Schule nach Hause gekommen. Erst ist sie im Bus gefahren, da war sie noch da, sagen ihre Freunde, dann ist sie weiter zu Fuà gelaufen, und dann war sie weg, sagen die anderen. Ich habe es erst gemerkt, als sie nicht mit ihren Schulkameraden nach Hause kam.«
»Muss sie allein durch das Wildreservat laufen?«, fragte Anita, entsetzt von dieser Vorstellung.
Die Zulu schüttelte den Kopf und schniefte lang anhaltend. »Am Tor von Inqaba werden die Kinder abgeholt und zu unseren Hütten gefahren. Ich habe alle gefragt, aber niemand wusste etwas, niemand hat gemerkt, wann sie nicht mehr da war. Dann habe ich sie gesucht, bin ihren ganzen Schulweg entlanggegangen, aber es wurde dunkel, und ich hatte kein Licht und konnte nichts mehr sehen. Ziko war nicht da, er musste mit Mama Jill Wilderer jagen.« Sie zog ihre Hand aus Anitas zurück und bemühte sich, ihre Prothese zurechtzurücken, zog mit einem Schmerzenslaut die Luft durch die Zähne, als sie die wunde Stelle berührte. Plötzlich hob sie ihr Gesicht, ihre Augen waren schreckgeweitet. »Ich habe in der Nacht Löwen gehört«, flüsterte sie.
Anita überrieselte es eiskalt und erinnerte sich, dass sie ebenfalls, ganz entfernt, ein Grollen vernommen hatte. Im Halbschlaf hatte sie es auf ein nahendes Gewitter geschoben. Und tatsächlich musste es geregnet haben, denn auf dem Weg standen noch Pfützen, wie sie erst jetzt bemerkte, und die Luft war schwer und feucht, dass sie einem den Mund füllte wie ein Getränk. Löwen oder Gewitter?
»Löwen?«, sagte sie. »Ich dachte, dass es gedonnert hat und ein Gewitter aufgezogen ist.«
AuÃer noch lauterem, anhaltendem Schluchzen war kaum etwas aus der Zulu herauszukriegen, nur gestammelte Satzfetzen. Kurz entschlossen wählte Anita die Nummer der Rezeption.
»Jonas? Hier ist Anita Carvalho von Bungalow eins â ich
habe hier Busi, die Frau von Ziko, gefunden. Ihre Tochter Jabulile ist verschwunden, und Busi kann nicht mehr laufen, weil die Prothese ihren Beinstumpf blutig gescheuert hat. Bitte schicken Sie jemanden, der sich um sie kümmert ⦠Wir sind in der Nähe von Bungalow 4 ⦠Natürlich bleibe ich so lange bei ihr«, antwortete sie auf Jonas Bitte. Mit einem Tastendruck beendete sie das Gespräch und beugte sich wieder zu der Zulu hinunter. »Gleich wird Hilfe kommen, Busi.«
Die Zulu nickte nur weinend. Ihre Hände bebten, sie zupfte an ihrem Kleid, kratzte sich, verschlang die Finger ineinander, löste sie gleich darauf wieder. Anita legte den Arm um sie, bestrebt, die Frau so weit zu beruhigen, dass sie eine klare Auskunft geben konnte, wo und wann ihre Tochter verschwunden war.
Löwen, dachte sie, das darf nicht wahr sein. Mit Mühe zügelte sie ihre Fantasie, sich auszumalen, was da geschehen sein könnte.
Es dauerte keine
Weitere Kostenlose Bücher