Jenseits von Timbuktu
Wand an ihr vorbeischob und das Licht blockierte.
Das Muttertier! Keinen Meter von ihr entfernt, getrennt nur durch Blech und Glas. Anita erstarrte. Wenn sie nicht gereizt
wurden, neigten Nashörner nicht zur Hektik, das wusste sie, und die Bewegungen des Tiers waren Gott sei Dank eher als bedächtig zu bezeichnen. Das Rhino hielt inne, und erst jetzt nahm Anita wahr, dass das mächtige Tier neben dem Auto auf der Böschung stehen musste, denn sein Maul befand sich in ihrer Augenhöhe. Das Nashorn wandte sehr langsam seinen Kopf, und Anitas Blick traf als Erstes auf das furchterregend spitze Horn, das sie in aller Ruhe aus nächster Nähe in jeder Einzelheit hätte studieren können. Aber sie war zu sehr mit der Frage beschäftigt, wohin sie sich retten sollte, falls das Tier angreifen würde â auf den Boden unter das Armaturenbrett oder zwischen die Rücksitze?
Aber dann war es zu spät. Das Nashorn hatte sie entdeckt. Sie wusste zwar, dass diese Tiere nur sehr schlecht sehen konnten, befürchtete aber, dass es aus einem halben Meter Entfernung wohl einen Menschen erkennen würde. Sie wagte es nicht, auch nur mit einem Muskel zu zucken. Nur ihre Augen rollte sie herum, bis sie das Tier sehen konnte.
Das Nashorn schob seinen Kopf heran, füllte praktisch die gesamte Fensteröffnung aus. Es wurde dunkel im Auto. Aus einem Kreis von wulstigen Falten blinzelten sie kleine, bewimperte Augen an. Sanfte Augen, absolut nicht aggressiv. Traurig vielleicht, um den Ausdruck ins Menschliche zu übersetzen. Für einen langen, knisternden Moment schauten sich Nashornkuh und Menschenfrau an. Dann schnaufte das Kalb wieder und trottete zu seiner Mutter. Der Nashornkopf verschwand aus Anitas Blickfeld, die graue Wand bewegte sich, und es wurde wieder hell im Auto. Die Kuh walzte die Böschung hinunter und begrüÃte ihr Kalb mit zärtlichem Grunzen. Das Junge drängte sich sofort an ihre Zitzen und trank. Es schmatzte und quiekte ab und zu, und Anita war restlos gefangen von diesem seltenen Schauspiel.
Aber die Kuh schien durch irgendetwas beunruhigt zu sein. Bald schon schob sie ihr Junges mit vorsichtigen Stupsern von
der StraÃe ins meterhohe Gras, und innerhalb von Sekunden waren beide Tiere nicht mehr zu sehen. Nur noch einige zitternde Büsche zeugten davon, welchen Weg die Kolosse genommen hatten.
Anita brauchte einen Moment, um wieder zu sich zu kommen. Als wäre sie aus einer anderen Welt in ihre zurückgekehrt. Mit dem widersprüchlichen Gefühl von Sehnsucht und gleichzeitigem Bedauern drehte sie den Zündschlüssel und fuhr los. Der Schlagbaum am Wärterhäuschen wurde für sie gehoben, und sie fuhr aus Inqaba hinaus auf die HauptstraÃe. Warme Luft strömte durch den offenen Fensterspalt, den sie noch immer nicht bemerkt hatte.
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Am nächsten Tag sollte Dirk herausfinden, dass Anita an einer Wegkreuzung, die nur kurz vor der lag, die zu Cordelias Haus führte, falsch abgebogen war. Eigentlich wäre das nicht weiter bedeutsam gewesen, aber dieser Weg führte statt zur Auffahrt zu Timbuktu zu einem unscheinbaren flachen Gebäude, das von einem hohen Zaun umgeben war. Hier, so vermutete er zumindest, musste sie aus irgendeinem Grund ausgestiegen sein, wahrscheinlich um nach dem Weg zu fragen. Was danach passierte, wie es dazu kam, dass sie sich von dieser Minute an einfach in Luft auflöste, blieb ein Rätsel. Ihr Wagen wurde ebenfalls nicht gefunden, und weder wurde das GPS geortet, noch ein Autodach mit der Nummer 102 gesichtet.
Aber auch das erfuhr Dirk erst viel später, denn durch eine Verkettung unglücklicher Umstände wurde Anita erst einen Tag nach ihrem Verschwinden vermisst.
Als er am frühen Morgen des nächsten Tages vergnügt vor sich hin pfeifend zu ihrem Bungalow hochstieg, trübte keine Vorahnung seine Laune, keine innere Stimme warnte ihn. Er klopfte. Erst vorsichtig, dann lang anhaltend, und zum Schluss trommelte er mit der ganzen Faust gegen die Tür. Niemand
rührte sich. Er umrundete, noch immer pfeifend, das Haus, so weit wie es der Verlauf der Veranda zulieÃ, und spähte durch die Glaswände. Die Räume gähnten ihm mit jener absoluten Stille entgegen, die ihn sofort davon überzeugte, dass sich dort kein Lebewesen aufhielt. Er hörte auf zu pfeifen.
Völlig unvorbereitet wurde er von der unerklärlichen Angst gepackt, dass Anita irgendwo verletzt und
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