Jenseits von Timbuktu
Atem. »Danke«, keuchte sie.
Angestrengt suchte sie etwas, an dem sie sich festklammern konnte, irgendetwas, was sie ablenken würde, was verhindern würde, dass sie seelisch abstürzte, wie es ihr nach Franks Tod schon öfter passiert war. Ihr Blick irrte umher und fiel auf einen ungewöhnlich gefärbten Vogel, der auf einer roten Aloeblüte saÃ. Sie konzentrierte sich völlig auf diesen Vogel, schloss alle anderen
Sinneseindrücke aus. Feder für Feder prägte sie sich ihn ein. Ein roter Schnabel, die Stirn leuchtend türkis, hellviolette Wangen und rot umrandete Augen, die Kehle glänzend schwarz. Der Vogel öffnete den Schnabel, und eine Kadenz kristallklarer Töne stieg in den Himmel.
Für eine Sekunde schloss sie die Lider, fühlte, dass sich etwas in ihr löste. Sie atmete tief ein, wartete, bis die Luft auch in die kleinsten Verästelungen ihrer Lunge strömte, ehe sie langsam ausatmete. Dann tastete sie sich weiter über das glänzend rostbraune Gefieder zu den zartgrauen Schwungfedern, bewunderte den flaumigen Schwanzansatz, der im gleichen Türkis wie die Stirn schillerte. Als sie bei den langen, schwarzblauen Schwanzfedern angelangt war, war das Entsetzen zurückgewichen. Die Schwärze lichtete sich, ihr Atem wurde ruhiger. Sie spürte wieder die prickelnd warmen Sonnenstrahlen, den hauchzarten Wind, der ihr über die Haut strich. Zögernd wagte sie, in die Wirklichkeit zurückzukehren.
Doch obwohl die Bilder sich aufgelöst hatten, blieb da eine Ahnung von Angst, ein inneres Zittern wie von groÃer Kälte, das nichts mit dem Eisbeutel auf ihrem Genick zu tun hatte. Es machte ihr die Beine schwer, als hätte sie gerade einen Grippeanfall überstanden. Sie erschauerte.
Das Eis war mittlerweile geschmolzen. Das Wasser leckte ihr über den Rücken und durchnässte ihr dünnes Oberteil und ihren Slip. Sie griff nach dem Beutel. Er war glitschig, rutschte ihr aus der Hand und zerbarst auf einem spitzen Stein. Der Vogel erschrak und stob davon. Sein Gefieder sprühte in der sinkenden Sonne Farbblitze wie ein kostbarer Edelstein.
Jetzt nahm sie ihre Umgebung wieder wahr. Ein Schwarm Kanarienvögel schwirrte durch ihr Blickfeld, der Himmel glühte. Noch lag die Hitzedecke über dem weiten Land und brannte ihr auf der Haut, aber die ersten zarten Abendschatten verfingen sich schon im Gebüsch.
»Cut  â und Schluss«, sagte Flavio Schröder. »Wir packen ein. Morgen gehtâs ab nach Zululand zu den Löwen.« Er grinste. »Noch zwei Szenen dort, und wir sind fertig.« Auf seine Handbewegung hin wurde die Hebebühne gesenkt. Steifbeinig kletterte er von seinem Sitz herunter, streckte sich, drückte seine Baseballkappe tiefer ins Gesicht und schlenderte, die Hände in den Hosentaschen vergraben, allein davon. Einen Stein mit dem Fuà vor sich her kickend, wanderte er über die roten Bodenwellen ins Abendlicht, bis seine breitschultrige Gestalt nur noch eine schmale Silhouette vor dem blutroten Himmel war.
Die Blicke der gesamten Crew verfolgten ihn angespannt. Selbst Dirk Konrad, der Kameramann, drehte sich in seinem Hochsitz um und sah ihm nach. Dann tat Flavio Schröder plötzlich einen vergnügten Schnalzer und schoss den Stein in hohem Bogen in die Weite. Alle Anwesenden quittierten das mit lautem Applaus und gellenden Pfiffen und machten sich darauf erleichtert an das Einpacken ihrer Utensilien.
»Heureka, der groÃe Meister ist zufrieden, die Untertanen können aufatmen«, murmelte Andy Kaminski, der Kameraassistent, und blies sich seine rote Tolle aus den Augen, während er sorgfältig die Kamera auseinandernahm.
Marina Muro kam mit wiegenden Hüften auf Anita zu. »Das warâs. In Zululand muss Dirk nur noch ein paar Landschaftsszenen mit uns nachdrehen.« Mit einer eleganten Bewegung hob sie ihre Haarmähne hoch und fächelte sich Kühlung zu. »Meine Herren, ist das heià hier. Eine grässliche Gegend. Kaum zu glauben, dass hier jemand freiwillig lebt. Ihre Eltern müssen verrückt gewesen sein.«
Bei der ersten Begegnung mit der Schauspielerin hatte Anita spontan Abneigung gegen sie gespürt, nach einiger Zeit hatte sie jedoch den Eindruck, dass Marina Muro ständig eine Rolle spielte, was so weit ging, dass sie sogar Sätze aus dem Drehbuch in ihre Unterhaltungen einflocht, als wären es ihre eigenen.
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