Jenseits
durch die finstere Nacht und landete irgendwo auf dem sechs Hektar großen Friedhofsgrundstück.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es sich anfühlen würde, als werfe er mein Herz weg. Aber genau das tat es.
Allwärts gebeut er; doch er trägt die Kron’
Nur dort; dort ragen seines Sitzes Zinnen –
O selig, wen er wählt, daß er dort wohn’!
Dante Alighieri, Göttliche Komödie , Erster Gesang
D as erste Mal sah ich ihn an dem Tag von Opas Beerdigung. Das nächste Mal begegnete ich ihm, als ich tot war. Und natürlich fragte ich genau das, was alle fragen, wenn sie sich kurz zuvor den Schädel angeschlagen, mehrere Liter Swimmingpool-Wasser geschluckt und sich dann von den Lebenden verabschiedet haben: »Wo bin ich?«
Ich war jedenfalls nicht mehr auf dem Boden unseres Pools, auch wenn ich immer noch dieselben nassen Klamotten anhatte. Sie waren klamm und klebten an mir wie eine eisig kalte zweite Haut. Aber ich war auch nicht in einem Krankenwagen oder in einer Klinik, sondern in einer unendlich großen unterirdischen Höhle, die sich über einen windgepeitschten See spannte. Und ich war nicht allein.
»Name?«
Ein hochgewachsener, ganz in Schwarz gekleideter Mann, der offensichtlich mein »Wo bin ich?« gehört hatte, drehte sich zu mir um und zog eine Art goldenes Schreibpad hervor.
Ich war immer noch so benommen, dass ich einfach antwortete: »Pierce Oliviera.«
»Dein Platz ist dort drüben«, sagte er, nachdem er meinen Namen eingegeben hatte.
Ich schaute in die Richtung, in die er gedeutet hatte, und merkte erst jetzt, dass ich mich in einer Menge von anscheinend mehreren tausend Menschen befand, die meisten davon schon etwas älter, manche auch in meinem Alter und wieder andere sogar noch jünger. Sie schienen alle in einer ähnlich erbarmungswürdigen Verfassung zu sein wie ich, wenn auch nicht durchnässt bis auf die Knochen und mit einer riesigen Beule am Kopf. Aber auch sie mussten sich von diesen großgewachsenen, schwarz gekleideten Männern einer der beiden Warteschlangen zuteilen lassen.
Die Kerle sahen genauso aus wie die Typen, die meine älteren Schulkameradinnen immer beschrieben, wenn sie am Wochenende mit dem Zug nach New York City fuhren, um sich in einen der angesagten Clubs zu schmuggeln. Es waren die Typen, von denen sie regelmäßig wieder rausgeworfen wurden – muskulös, glatzköpfig, schwarze Lederklamotten und am ganzen Körper tätowiert. Mit anderen Worten: supergruselig. Im Gegensatz zu meiner besten Freundin Hannah hatte ich nie den Mut gehabt, mich als Minderjährige in einen Club zu schleichen. Außerdem hatte ich keinen gefälschten Schülerausweis; selbst meinen richtigen musste ich jedes Mal erst suchen. Und so traute ich mich auch nicht, mich den Anweisungen des seltsamen Kerls vor meiner Nase zu widersetzen. Die Schlangen führten zum Seeufer, wo zwei Anlegestege zu sehen waren. Die eine Schlange war unglaublich lang, die andere etwas kürzer, und auf die deutete der Typ.
»Und bleib in deiner Schlange«, knurrte er. Das war eindeutig ein Befehl.
Mucksmäuschenstill tat ich, wie er mir geheißen hatte. Ich war viel zu verängstigt, um auch nur den kleinsten Mucks zu machen. Erst als ich an meinem Platz war und hinter einer zwergenhaft kleinen, reizend aussehenden alten Lady stand, wagte ich, ihr von hinten auf die Schulter zu tippen und zu fragen: »Verzeihung, Ma’am?«
Sie drehte sich um, und ihr Gesicht war so faltig, wie ich noch nie zuvor eines gesehen hatte. Sie musste mindestens hundert sein. »Ja, liebes Fräulein? Oh Schreck, was ist Ihnen denn zugestoßen? Sie sind ja ganz nass!«
»Bei mir ist alles in Ordnung«, log ich. Ich zitterte so stark, dass meine Zähne sogar ein wenig klapperten. »Ich frage mich nur … wissen Sie, wo wir sind?«
»Aber natürlich, Liebes«, erwiderte sie mit einem breiten Lächeln. »Wir warten hier auf unsere Fähre.«
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. War das ein Traum? Aber wenn es einer war, wie kam es dann, dass ich das Wasser zwischen meinen Fingern hervorquellen fühlte, als ich meinen Schal auswrang?
»Wohin fährt das Boot denn?«, fragte ich.
»Ach, das weiß ich auch nicht«, erwiderte die alte Lady mit einem weiteren, freundlichen Lächeln. »Uns sagt hier ja keiner was. Aber ich möchte doch glauben, dass es sich um einen ganz entzückenden Ort handelt. Sehen Sie doch nur, wie gerne die Leute von dort drüben sich in unserer Schlange anstellen würden anstatt in ihrer.« Sie deutete
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