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Jenseits

Jenseits

Titel: Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meg Cabot
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Wovon redete er?
    Ich weiß bis heute nicht, wie ich es geschafft habe, unter seinem einschüchternden Blick auch nur ein einziges Wort, geschweige denn einen ganzen Satz herauszubringen. Wahrscheinlich wird einem, wenn man komplett durchnässt, verzweifelt, verängstigt und vollkommen alleine ist, irgendwie klar, dass man nichts mehr zu verlieren hat.
    »Ich w-weiß nicht, was du meinst«, stammelte ich, und meine Stimme zitterte dabei genauso wie meine Hände. »Ich … ich versuche keine Tricks. Ich wollte dein Pferd nicht erschrecken. Und es tut mir leid, wenn du dir wehgetan hast. Aber ich musste mit dir sprechen, und …«
    »Dazu ist es jetzt zu spät«, unterbrach er mich grob und blickte dann wieder starr geradeaus. »Für heute habe ich schon so viele Ausreden gehört, wie ich an einem Tag ertragen kann. Wenn ich eine Entscheidung erst mal getroffen habe, ist sie endgültig. Keine Ausnahmen … nicht mal für Mädchen, die aussehen wie du.«
    »Das verstehe ich«, erwiderte ich, obwohl ich immer noch keine Ahnung hatte, wovon er redete. Welche Entscheidung? Was für Mädchen, die aussehen wie ich? Ich war der Meinung, ich musste ein ziemlich klägliches Bild abgeben in meinen klatschnassen Klamotten. Meine Haare sahen wahrscheinlich aus wie ein Vogelnest, in dem eine Katze gewütet hatte. Hatte er das vielleicht gemeint? »Aber das ist es gar nicht, worüber ich mit dir …«
    Die andere Schlange, die mit den Störenfrieden, kam immer näher, und ihr Anblick gefiel mir nicht. Keine netten alten Damen, keine Jungs ohne Handyempfang. Stattdessen Faustkämpfe und Haareziehen, während die Leute versuchten, an den Wächtern vorbei zu der anderen Schlange durchzubrechen, und als eine Sekunde später ein Horn ertönte, wurde es sogar noch schlimmer.
    Eine Fähre, so groß wie die, auf der ich mit meinen Eltern einmal im Sommer nach Martha’s Vineyard gefahren war – sie hatte Platz gehabt für Hunderte von Passagieren samt ihrer Autos –, tuckerte auf den Anlegesteg zu, vor dem ich wenige Momente zuvor noch gestanden hatte.
    Eine Welle der Erregung schien über die Wartenden hinwegzurollen, und der Lärm wurde beinahe unerträglich. Jemand aus der Störenfriedschlange kam schließlich durch, rannte direkt vor meiner Nase vorbei und brachte damit meine ohnehin schon recht wackeligen Knie endgültig zum Einknicken. Mein Häscher musste stützend einen Arm um mich legen, damit ich nicht hinfiel.
    »Wenn sie sowieso in die andere Schlange muss«, brüllte der Flüchtende, »nehm ich ihren Platz!«
    Aber er kam nicht weit. Einer der Wächter packte ihn und zog ihn schreiend an seinen alten Platz zurück.
    »Das ist ungerecht!«, kreischte er. »Warum kann ich nicht ihren Platz haben?«
    Der Fremde vom Friedhof beobachtete die Szene und blickte dann zu mir hinunter. »Von wo bist du gekommen?«, fragte er argwöhnisch.
    »Das will ich dir doch die ganze Zeit erklären«, erwiderte ich, während meine Augen sich mit Tränen füllten. »Erinnerst du dich nicht an mich?«
    Er schüttelte den Kopf. Aber sein Griff um meinen Oberarm begann sich bereits zu lockern.
    »Ich bin’s«, sagte ich. Natürlich fand ich es fürchterlich, dass ich jedes Mal weinte, wenn wir uns begegneten, aber andererseits half es ja vielleicht seinem Gedächtnis auf die Sprünge. »Wir sind uns auf dem Friedhof auf Isla Huesos begegnet, am Tag der Beerdigung meines Großvaters. Du hast einen toten Vogel wieder zum Leben erweckt …«
    Sein Gesicht veränderte sich schlagartig. Der harte Glanz verschwand aus seinen grauen Augen, die plötzlich wieder genauso sanft wurden wie an jenem Tag, als wir uns das erste Mal begegnet waren.
    »Du warst das?« Selbst seine Stimme hatte sich verändert und klang jetzt beinahe menschlich.
    »Ja«, antwortete ich mit einem Lächeln, auch wenn immer noch Tränen über mein Gesicht strömten, denn ich merkte, dass ich endlich zu ihm durchgedrungen war. Und vielleicht, nur vielleicht, würde jetzt ja wieder alles in Ordnung kommen. »Das war ich.«
    »Pierce«, sagte er, und ich konnte regelrecht sehen, wie seine Erinnerung zurückkam. »Dein Name war … Pierce.«
    Ich nickte, und meine Tränen flossen jetzt so heftig, dass ich sie wegwischen musste. »Pierce Oliviera.«
    Der Klang meines Namens aus seinem Mund war wunderbar. Alles an diesem Ort war ein einziger Albtraum, und etwas Vertrautes zu hören tröstete mich mehr, als ich mit Worten beschreiben kann. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen, doch

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