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Jenseits

Jenseits

Titel: Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meg Cabot
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hatte vollkommen vergessen, dass er sich so lautlos wie eine Katze bewegen konnte, wenn er wollte. Denn diesmal hatten die verwelkten Flammenbaum-Blütenblätter nicht das leiseste Geräusch von sich gegeben, als er mit seinen Stahlkappenstiefeln daraufgetreten war, und ich bemerkte ihn erst, als gerade noch eine Handbreit zwischen uns passte. Je näher er kam, desto heftiger schlug mein Herz, und das nicht nur aus Angst vor dem, was er vielleicht gleich mit mir machen würde, sondern weil mir gleichzeitig all die kleinen Dinge auffielen, die ihn dummerweise so verdammt anziehend machten: Jetzt, aus der Nähe betrachtet, waren seine Augen so hell wie meine dunkel waren, nur dass meine einen warmen Farbton hatten, mit kleinen Sprenkeln von Bernstein und Honig darin, wie er mir höchstpersönlich einmal in einem zärtlichen Moment mitgeteilt hatte – was jedoch bei nüchterner Betrachtung nicht unbedingt ein Kompliment ist, denn Baumharz und Honig sind zähe, klebrige Flüssigkeiten, in denen gerne mal Insekten kleben bleiben.
    Seine Augen waren das genaue Gegenteil von meinen: kalter, leuchtender Stahl, eines der härtesten Metalle, die es überhaupt auf Erden gibt. Und das war schwer zu übersehen, jetzt, da sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt war.
    »Ob ich dir drohe?«, wiederholte er und starrte auf mich hinunter. »Womit? Was könnte ich dir schon tun? Du bist nicht tot, zumindest nicht mehr.«
    Ich atmete tief durch und zwang mein Herz, etwas langsamer zu schlagen, denn plötzlich war mir klar, was passieren würde: Er würde mich küssen.
    Oder, wie mir mein banges Herz zuflüsterte, vielleicht auch nicht. Denn ich hatte seinen Blick fehlinterpretiert. Er hatte nicht auf meine Lippen gestarrt, sondern auf etwas weiter unten … nämlich den Ausschnitt meines Kleides, den ich zuvor ein Stück weit aufgeknöpft hatte. Gerne hätte ich mich der nicht allzu weit hergeholten Fantasie hingegeben, es wären meine weiblichen Formen, die seinen Blick anzogen. Aber in dieser Nacht war es etwas anderes, das ihn interessierte. Es hing an einer Goldkette, und ich hatte es seit meinem »Todestag« nicht mehr abgenommen. Es sollte denjenigen, der es trug, vor allem Bösen beschützen. Das hatte er zumindest gesagt, als er es mir gab. Aber heute Nacht hatte es ganz offensichtlich nicht funktioniert, und, wie mir schien, auch sonst kein einziges Mal.
    Erst jetzt, da wir uns auf dem Friedhof direkt gegenüberstanden und ich seinen warmen Atem auf meiner Wange spürte, fiel mir auf, dass ich ihn nie gefragt hatte, ob es okay wäre, wenn ich die Kette mit in diese Welt nähme. Ich hatte sie zwar nicht gestohlen – schließlich hatte er sie mir geschenkt –, aber ich war ziemlich sicher, dass dieses Geschenk an bestimmte Bedingungen geknüpft war. Eine davon dürfte gewesen sein, dass ich in seiner Welt bleibe, und …
    Nun, dazu war es nicht gekommen.
    »Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen«, hatte er gesagt.
    Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich hob schnell die Arme vor die Brust, um den Stein und auch alles andere unter dem Ausschnitt meines Kleides zu verbergen.
    »Du hast ihn noch«, flüsterte er. Seine Stimme klang jetzt nicht mehr wie Donner, sondern genauso wie an dem Tag, als wir uns das erste Mal begegnet waren und er so sanft und tröstend gewesen war.
    »Natürlich habe ich ihn noch«, erwiderte ich, erstaunt darüber, dass er so erstaunt war. Was hatte er denn geglaubt? Dass ich ihn, sobald ich aus seiner Welt geflohen war, auf die nächste Müllkippe schmeiße?
    Ich biss mir auf die Lippe. Vielleicht war sein Gedankengang ja doch nicht so abwegig. Es war durchaus logisch, wenn er glaubte, dass ich nicht besonders scharf auf ein Andenken an meinen Todestag sein konnte. Oder ein Andenken an ihn. Wahrscheinlich war es auch dumm von mir gewesen, die Kette zu behalten, und ich hätte sie lieber in den Ozean werfen sollen, wie die alte Lady auf der Titanic , kurz vor deren Untergang. Jedes andere Mädchen auf der Welt hätte das getan. Oder ihn verkauft, wenn der Stein tatsächlich so viel wert war.
    Was also hatte die Tatsache, dass ich keines von beidem getan hatte, zu bedeuten?
    Nichts. Und bestimmt nicht, dass ich irgendwelche Gefühle für ihn hatte. Dann wäre ich nämlich tatsächlich verrückt gewesen, bei allem, was er mir angetan hatte. Bitte, bitte, hoffentlich glaubte er nicht, ich hätte ihn aus diesem Grund behalten.
    Andererseits, warum wurde mir bei dem Gedanken, ihn zurückzugeben,

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