Jenseits
Glauben: Die Furien waren sehr geschickt darin, sich Wege für ihre Rache auszudenken, und deshalb musste Hades sicherstellen, dass seine Gefährtin sich irgendwie vor ihnen schützen konnte, oder vielleicht … Geht es Ihnen gut, Miss Oliviera?«
Ich fühlte mich, als würde ich gleich meinen Cola-Pool auf Mr. Smiths Schreibtisch erbrechen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als an die Leute, die in jener Schlange auf die andere Fähre gewartet hatten. Auf diejenige, die ich auf keinen Fall würde nehmen wollen, wie John gesagt hatte. Waren sie alle zu Furien geworden?
Irgendetwas sagte mir, dass genau das der Fall war.
»Nein«, antwortete ich, und draußen zuckte ein so heftiger Blitz, dass ich auf meinem Stuhl einen kleinen Satz machte. »Ich muss jetzt gehen. Ich bin mit dem Fahrrad hier und muss weg, bevor der Regen anfängt. Deshalb …«
»Seien Sie ganz unbesorgt. Ich werde Sie fahren«, erwiderte Mr. Smith und griff nach einem dicken Buch, das in einem Regal hinter ihm stand. »Ich selbst war nie ein großer Fan des Hades-Persephone-Mythos. Zu viel Drama. Zuerst entführt er das arme Ding auf so schreckliche Weise und zwingt sie, gegen ihren Willen mit ihm in der Unterwelt zu leben, dann muss Persephones Mutter eingreifen … Ich mochte Geschichten, in denen die Mütter zu sehr strapaziert werden, noch nie. Sollen die Kinder ihre Angelegenheiten selbst regeln, sage ich immer. Aber ich schweife ab. So heißt nämlich der Diamant, müssen Sie wissen. Der Persephone-Diamant. Ah, da ist er ja.«
Er hielt das Buch hoch und deutete auf eine Illustration. »Marie Antoinette, in voller Pracht, und sie trägt Ihren Diamanten. Ihr Ehemann, König Louis XVI ., hat ihn ihr geschenkt, und ich frage mich, wie er wohl in seine Hände gelangt ist. Furien können angeblich von jedem Menschen Besitz ergreifen. Das heißt, von jedem, der so charakterschwach ist, dass sie ihm ihren Willen aufzwingen können, und es mag sein, dass der König von einer Furie besessen war, oder auch die Königin oder irgendjemand sonst, der ihnen die Halskette gab mit dem Ziel, damit Schaden anzurichten. Ein unglückliches Schicksal für beide jedenfalls, ganz egal wie es zustande kam. Dieses Porträt war die einzige Gelegenheit, zu der Marie Antoinette den Stein tragen konnte, bevor das Volk sich gegen sie und ihren Ehemann erhob und beide wegen Verrats und Verbrechen gegen den Staat hinrichten ließ. Sie haben doch in der Schule schon einmal von der Französischen Revolution gehört, Miss Oliviera, oder etwa nicht?«
Ich starrte die Abbildung an, eine Reproduktion des Porträts von Marie Antoinette, der todgeweihten Königin von Frankreich. Sie trug ein Gewand, das Persephones Toga, Hades’ unwilliger Braut, die oft auf antiken Vasen abgebildet wurde, nicht unähnlich sah. Sogar ein Kranz aus Weinblättern war in ihre turmhohe, gepuderte Perücke geflochten. Nun ja, ein Kranz aus goldenen Weinblättern, aber immerhin.
Und an ihrem Hals – diesem schlanken Hals, den Madame Guillotine schon so bald durchtrennen würde – hing mein Diamant, aber nicht an einer Goldkette, sondern an einem Kropfband aus dunkelgrünem Samt.
»Männer haben für diesen Diamanten getötet«, hatte John mir erzählt. Nicht nur Männer, wie sich nun herausstellte.
Hatte er es gewusst? Kannte er seine blutige »Herkunft«, wie der Juwelier es ausgedrückt hatte?
Natürlich hatte er das. Er musste es gewusst haben. Und trotzdem hatte er ihn mir gegeben. Damit er mich beschützte, wie John behauptet hatte …
Inzwischen zitterte ich am ganzen Körper. Ich hatte meine Strickjacke zu Hause gelassen und wünschte mir gerade, ich hätte sie stattdessen in meinen Fahrradkorb geworfen. Doch wie hätte ich das ahnen sollen? Wie hätte ich ahnen sollen, was ich hier erfahren würde?
Der Friedhofsaufseher schien jedoch immer noch nichts zu bemerken und fuhr gut gelaunt mit seiner makaberen Geschichte fort.
»Der Diamant verschwand«, sagte er und klappte das Buch zu. »So wie der größte Teil der Juwelen der Königin nach ihrer Verhaftung. Bis er eher zufällig über fünfzig Jahre später wieder auftauchte, und zwar auf der Frachtliste eines Handelsschiffes, das am 11. Oktober des Jahres 1846 ausgerechnet hier auf Isla Huesos anlegte. Und das war das letzte Mal, dass der Diamant – und alle an Bord des Schiffes – gesehen wurden. Denn der Frachter fiel, ebenso wie alle anderen an diesem Tag im Hafen befindlichen Schiffe, einem Hurrikan der Kategorie fünf
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