Jeremy X
doch einfach ungeheuerlich, von einem Vierzehnjährigen, der gerade in der großen Verzweiflung über das Leben an sich versank, zu verlangen, er solle sich um die langweilige - nein, bleierne - Dumpfheit von Sinus, Kosinus und Co. kümmern. Selbst ein so so anal-retentiver Lehrer wie Andy Taub sollte doch zumindest so viel begreifen!
»Das ist einfach nicht ...«
Gnadenlos schnellte nun auch der Mittelfinger empor. »Drittens. Du hast sowieso noch keine Lust zu heiraten. Das redest du dir im Moment bloß ein, weil du immer noch ...« - kurz hielt er inne, das Gesicht zu einer Karikatur angestrengten Nachdenkens verzogen - »... mindestens vier Monate lang brauchen wirst, wenn ich das richtig abschätze, bis dir die befreiende Erkenntnis kommt, dass du überhaupt nicht verheiratet zu sein brauchst, um bumsen zu können - und ganz genau das ist es, zu was dich diese Mongolenhorde von Hormonen antreibt, wenn es um Cousine Jennifer geht.«
»Das ist wirklich nicht ...«
Doch es war schwierig, Onkel Andrew abzulenken, wenn er einmal in Fahrt gekommen war. Der Ringfinger gesellte sich zu seinen Kameraden. Um der Unfairness der ganzen Situation noch die Krone aufzusetzen, musste Brice sich eingestehen, dass Andrew Artlett, der alles andere als grazil war, seine Finger dennoch sehr geschickt zu bewegen vermochte. Geschickt genug, um den Ringfinger zu strecken, während der kleine Finger immer noch gekrümmt war. Das konnten nicht viele.
»Viertens. Wenn du das erst einmal begriffen hast, dann wird die Erleichterung ob dieser Erkenntnis natürlich nur vorübergehender Natur sein - schließlich wird dir in dem Moment, wo du versuchen wirst, gemäß dieser neuen Erkenntnis auch zu handeln, rasch klar werden, dass Cousine Jennifer ebensowenig daran interessiert ist, mit dir ins Bett zu springen, wie dich zu heiraten.« Er warf seinem Neffen ein fröhliches Lächeln zu. »Und dann wirst du plötzlich begreifen, dass du ebenso zu einem Leben in Keuschheit - also ohne Bumsen - verurteilt bist wie auch zu einem Leben im Zölibat, schließlich bedeutet Letzteres nichts anderes, als ewig Single zu bleiben.«
Gegen seinen eigenen Willen war Brice doch fasziniert. »Ich wusste nicht, dass es da einen Unterschied gibt.«
»Oh, doch, aber hallo! Frag irgendeinen Priester. Die versuchen diesen Unterschied schon seit Äonen zu ergründen, diese lüsternen Bastarde. Und unterbrich mich nicht. Denn an dem Punkt ...«
Unerbittlich wurde auch noch der kleine Finger gestreckt. »Fünftens. Das ist der Moment, wo du ganz aus der Bahn gerätst - da bist du dann endgültig durchgeknallt, näherst dich allmählich der Adoleszenz und fängst an, Gedichte zu schreiben.«
Brice' Protest kam gar nicht dazu, sich zu entwickeln. Zufälligerweise hatte er schon angefangen, Gedichte zu schreiben.
»Aber so richtig, richtig schlechte Gedichte«, schloss sein Onkel triumphierend.
Bedauerlicherweise hatte Brice das schon selbst vermutet.
Am Scheitelpunkt der Kurve brachte Brice die Gondel zum Stehen. Natürlich hätte er das mit den meisten Gondeln der Achterbahn gar nicht geschafft. Selbst die, die noch besser funktionierten - immerhin noch mehr als drei Viertel von allen -, waren ursprünglich für Touristen entwickelt worden. Touristen waren eine eigene Spezies - von der Gattung ›Bekloppte‹. Und das waren gewiss nicht die Sorte Lebewesen, denen das Personal eines Vergnügungsparks die Steuerung der Gondeln ihrer verschiedenen Fahrgeschäfte überlassen würde.
Doch trotz der bedauerlichen Ergebnisse von Onkel Andrews Enthusiasmus an jenem denkwürdigen Tag hatte Friede Butry nicht versucht, die für Touristen geltenden Regeln auch auf ihre Familienmitglieder anzuwenden. Dass sie das unangefochtene Oberhaupt des Clans geblieben war, zeigte deutlich, dass mit dem Gehirn der alten Lady immer noch alles in bester Ordnung war. Sie wusste ganz genau, dass es ohnehin unmöglich war, jegliche Form von Leichtsinn gänzlich zu verhindern, vor allem bei einem Clan, der derart viele Kinder hatte wie der ihre - ganz zu schweigen davon, dass auch manche der erwachsenen Mitglieder besagten Clans sich in mancherlei Hinsicht durchaus noch kindliche Aspekte bewahrt hatten. Da war es doch viel besser, geeignete Möglichkeiten zu finden, exzessiven Enthusiasmus irgendwie abbauen zu können.
Obwohl sie die meisten Gondeln der Achterbahn als funktionsuntüchtig erachtete, hatte sie dafür gesorgt, dass drei von ihnen auf den neuesten Stand der Technik gebracht
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