Jerry Cotton - 0504 - Der Tiger
einziger der Gruppe war er sogar ein wenig aufgekratzt. Ich glaubte den Grund zu kennen. Für ihn war diese Wahl eine lächerliche Farce. Er war sicher, daß er alle Fäden in seinen Händen hielt. Spätestens in einer Woche würde in diesem Raum, wie er annahm, eine neue Wahl stattfinden, und zwar ohne einen gewissen Arty Brockley.
Slim erhob sich und begann. »Wie ihr wißt, stellt heute nur ein Punkt auf der Tagesordnung, die Wahl des neuen Chefs. Seit Jeffs Tod sind unsere Reihen erheblich gelichtet worden. Es wird Zeit, daß uns wieder eine feste, geschickte Hand leitet. Arty hat uns bewiesen, daß er sie hat. Ich glaube auch in Jeffs Sinn zu handeln, wenn ich ihn als neuen Boß vorschlage. Oder hat einer von euch einen Gegenvorschlag?« Niemand rührte sich. »Keine Gegenstimmen«, konstatierte Slim. Er grinste mich gönnerhaft an. »Arty, ich gratuliere dir zu der Wahl!« Er gab mir seine feuchte Hand, die ich sofort wieder fallen ließ.
Ich äußerte kein Wort des Dankes. Ich benahm mich, als sei der Wahlausgang die verständlichste Sache der Welt, und sagte nur: »Jetzt die Akten! Ich will mich schnellstens über jedes Detail der bisherigen Arbeit informieren.«
Der große Augenblick war gekommen. Endlich hatte ich das Anrecht erworben, genauen Einblick in die Geheimunterlagen des Syndikates zu nehmen.
Slim ging mit einem der Männer in den Nebenraum. Eine Minute später kehrten sie mit einer schweren Stahlkassette zurück.
Slim stellte die Kassette vor mir auf den Tisch. »Darin findest du alles, was du brauchst, mein Lieber!«
Ich umfaßte den kühlen Stahl der Kassette mit beiden Händen. Ich wünschte, Farlund hätte mich in diesem Augenblick sehen können. Das große Ziel war erreicht. Jetzt war ich der Boß. Ich konnte jederzeit an den Inhalt heran, ich konnte ihn auswerten und dem FBI übergeben. Der Bluff war gelungen. Das Syndikat hatte theoretisch schon aufgehört zu existieren.
Aber schon in der nächsten Sekunde wurde mir klargemacht, wie wenig Theorie und Praxis manchmal in Einklang stehen.
Die Tür öffnete sich.
Ein Mann trat ein. Er war etwa in meinem Alter und trug einen auffällig karierten Anzug mit einer geblümten schockgrünen Krawatte.
Die Krawatte war nicht der einzige Schock, den er mitbrachte.
Er musterte erst mich, dann blickte er der Reihe nach die anderen Männer an. Seine schmalen blassen Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. »‘n Abend!« sagte er. »Arty Brockley ist mein Name!«
***
Ich wußte als erster, daß er die Wahrheit sagte. Aber ich war der letzte, der das zugeben durfte.
Ich konnte mir denken, wie Arthur Brockley in diesem Augenblick zumute war. Er genoß diesen Auftritt, so wie ich meine große Szene im Hunting Park Theater genossen hatte.
Mr. Farlunds großartiger Plan brach kurz vor der Erreichung des angestrebten Zieles in sich zusammen. Es lag an mir, die Situation zu retten. Doch dazu gehörte bedeutend mehr, als mit dem Schock, der Überraschung und der Enttäuschung fertigzuwerden.
Die Blicke der Männer huschten zwischen Brockley und mir hin und her. Das war schlecht. Schon der rein optische Vergleich, den sie dabei anstellten, fiel zu meinen Ungunsten aus. Der jüngere Brockley hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Jeff.
Brockley starrte mich grinsend an. Er schien zu wissen oder zu fühlen, daß ich sein Hauptgegner war. Ich fragte mich, wieviel er tatsächlich wußte.
Er machte einen harten, nicht unintelligenten Eindruck und stand leicht vornübergebeugt, mit locker an der Seite herabhängenden Armen, in der lässigen Haltung eines Menschen, der völlige Entspanntheit vortäuscht und doch hellwach ist, um bei der ersten verdächtigen Bewegung des Gegners loszuschlagen.
Ich warf einen Blick auf Slim. Sein Mund stand halboffen. Er war sich augenscheinlich nicht darüber im klaren, ob er dem Eindringling glauben durfte.
Für Slim war das Auftauchen des richtigen Arthur Brockley alles andere als ein Triumph. Es bedeutete für ihn, daß er seine Pläne ändern mußte und einen weiteren Gegner zu bekämpfen hatte. Den Zwiespalt der Gefühle spiegelte sein Gesicht.
»Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt?« fragte Brockley. »Ist jemand hier, der den Namen zum ersten Mal hört?«
Seine Stimme klang wie reiner Hohn.
»Wir wußten nicht, daß es zwei Arthur Brockleys gibt!« sagte Slim im gleichen Ton. Dann fiel ihm ein, daß er einen Posten zur Bewachung der Außentür abkommandiert hatte. »Wie
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