Jerry Cotton - 0515 - Ein Moerder macht Musik
Ein paar Sachen lagen auf dem Boden.
Der Portier stieß einen Pfiff aus. »Da kann doch etwas nicht stimmen!«
Ich bückte mich nach einem zerrissenen Schnellhefter. Es war ein französisches Fabrikat. Er war leer. Mir flogen einige Papierschnitzel entgegen, dünnes Durschlagpapier, das sich vermutlich beim Herausreißen einiger Seiten gelöst hatte. Ich steckte die Papierschnitzel ein. »Wie sah der Mann aus?« fragte ich den Portier.
Er überlegte nicht lange und lieferte mir eine recht plastische Personalbeschreibung. Sie paßte genau auf Tony Ganzetti. Wenn es stimmte, was der Portier sagte, war Louise Croix mit dem Syndikatsboß weggegangen.
»Sie würden ihn wiedererkennen?« fragte ich.
»Jederzeit!«
»Womit war der Mann bekleidet?«
»Er trug einen dunklen Sommermantel, Raglanschnitt, dünner Stoff, aber teure Ware«, erwiderte der Portier. »Keinen Hut.«
»War er mit dem Wagen hier?«
»Ja, ich hörte den Motor anspringen, nachdem der Mann mit dem Girl die Pension verlassen hatte. Es muß ein großer Wagen gewesen sein… das hörte man am sanften kraftvollen Schnurren der Maschine.«
»Miß Croix versuchte nicht, Ihnen beim Weggehen etwas zu sagen oder sich mit einem Blick verständlich zu machen?« fragte ich.
»Nein, Sir. Sie ging knapp vor dem Mann aus der Halle und schaute dabei weder nach links noch nach rechts. Wenn ich‘s recht bedenke, war ihr Blick ziemlich starr…«
»Den Wagen haben Sie nicht gesehen?«
»Nein, Sir.«
Ich blickte in den Schrank und ins Badezimmer. Auf dem Spiegel über dem Waschbecken war mit großen, hastig hingeworfenen Buchstaben ein einziges Wort quer über die Glasfläche geschmiert. Es war mit Lippenstift geschrieben und lautete schlicht und einfach ›CHARADE‹.
Ich starrte die Buchstaben an.
CHARADE. Welche Bedeutung kam diesem Wort zu? Was versuchte es zu signalisieren?
Mir war bekannt, daß es ein Buch dieses Namens gab. Der Roman war verfilmt worden. Vermutlich gab es ein Lokal, das so hieß. Wenn ich mich recht erinnerte, existierte sogar ein Modesalon dieses Namens.
Ich schlug das Telefonbuch auf, fand meine Annahme bestätigt. Die CharadeErfolgswelle hatte eine Bar, eine Fabrik für Kosmetika, einen Modesalon und eine Getränkefabrik erfaßt. Ich rief das Police Headquarter an und sprach mit dem zuständigen Beamten, oder besser gesagt mit seinem Vertreter vom Nachtdienst.
Ich erklärte ihm, worum es ging und was ich wissen wollte. Er antwortete mir, daß die Handelskammer schon geschlossen habe, daß er aber versuchen würde, die gewünschten Informationen zu bekommen. »Ich rufe Sie in zehn Minuten wieder an«, schloß er.
Ich legte auf. In meiner Tasche knisterten die Papierschnitzel. Ich glaubte zu wissen, was sie zu bedeuten hatten.
Mark Lennon war sich von Anbeginn über die Risiken und Gefahren seiner Reise nach Amerika im klaren gewesen. Er hatte deshalb seiner Freundin Louise Croix eine Abschrift des schon gesammelten Materials übergeben. Wahrscheinlich hatte Mark das Girl gebeten, das Material der Polizei zu übergeben oder einfach veröffentlichen zu lassen, falls ihm etwas zustoßen sollte.
Ganzetti hatte demnach erfahren, daß das Girl dieses Material besaß. Er hatte sich die Kopien des Artikels abgeholt, zusammen mit Louise Croix, die den Inhalt des Materials genau kannte.
Natürlich blieben noch einige Fragen offen, die es zu klären galt. Wieso interessierte sich Ganzetti für das Material, das nur Legrelle betraf? Und wie kam es, daß Louise Croix Gelegenheit gefunden hatte, das Wort auf den Spiegel zu schreiben? Last but not least: wie hatte der Syndikatsboß erfahren, daß sich das Mädchen in New York befand?
Fest stand, daß Louise Croix es geschafft hatte, vor ihrer Entführung aus der Pension ein Stichwort auf den Spiegel zu kritzeln. Sie war vermutlich im Bad gewesen, als Ganzetti ihr Gepäck durchwühlt hatte. Da der Gangster dabei gefunden hatte, was er suchte, war er nicht auf den Gedanken gekommen, sich auch im Bad umzusehen.
Aber was versuchte Louise Croix mit dem Wort auszudrücken? Ich wußte es schon wenige Minuten später, als der Beamte vom Headquarter zurückrief. Er nannte mir die Namen der Firmenbesitzer. Dabei stellte sich heraus, daß die Fabrik für Kosmetika keinem anderen als Tony Ganzetti gehörte.
Ich schmetterte den Hörer auf die Gabel und sauste los, ohne mich mit langen Erklärungen aufzuhalten. Kurz darauf brummte ich mit meinem Jaguar ab. Ich hatte glücklicherweise keinen weiten Weg
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