Jerry Cotton - 0539 - Die Tochter des Spions 3 of 3
Morgen früh wollte ich ihn in einer Snackbar in Petersburg treffen.
Mein Zimmer war klein, aber hübsch eingerichtet. Es verfügte über ein Bad mit Dusche und ein schmales Fenster, durch das ich auf den großen, sonnenüberfluteten Innenhof sehen konnte. Ich hatte mich auf der breiten Liege ausgestreckt. Ich las die Anweisungen, die Fletch mir aufgeschrieben hatte. Viel war es nicht, was man von mir erwartete. Aber mein Dienst sollte schon heute beginnen.
Gegen 18 Uhr veränderte sich die Atmosphäre in dem großen Schulgebäude. Nachmittags war es wie ausgestorben gewesen, jetzt begann ein lärmendes, hektisches Treiben. Überall Stimmen, Lachen, Gezänk und wütendes Schimpfen. Ich hörte Schritte, Türenknallen und das Rauschen in den Wasserleitungen. In einem entfernten Zimmer übte jemand auf einer Rumba-Trommel.
In der Nähe vernahm ich ein seltsames Geräusch, das sich in unregelmäßigen Abständen wiederholte. Wumm — wumm — wumm. Ich horchte. Es dauerte Minuten, bis ich dahinterkam, daß jemand ein Wurfmesser oder etwas Ähnliches benutzte. Das Ziel war offensichtlich eine Tür. Das Holz zitterte und vibrierte jedesmal, wenn die Klinge darin steckenblieb.
Heute war Freitag. An Freitagen fiel die Arbeitsstunde aus. Bis zum Dinner war noch eine halbe Stunde Zeit.
Ich stand auf, duschte und zog ein frisches Hemd und einen grauen Anzug an. Das Jackett war mir zu eng. Wenn ich bei ausgestreckten Armen die Handflächen aneinanderlegte, knisterte es verdächtig in der Rückennaht. Ich polierte meine Brille. Dann wartete ich.
Allan Fletch holte mich fünf Minuten vor sieben ab. Wir gingen den Flur entlang und die Treppe hinunter. Niemand begegnete uns. Der Speisesaal, langgestreckt und mit hoher Decke, nahm ein Drittel des Hauptgebäudes ein. Er reichte bis hinüber in den Mädchentrakt. Trotzdem konnte er kaum 500 Personen fassen. Die Tische standen sehr dicht beieinander. Ohne Klimaanlage hätte man es hier an heißen Tagen nicht ausgehalten.
Ich gebe zu, ich war ein bißchen aufgeregt. Ich bewegte mich auf Glatteis, auf einem Parkett, das ich nicht kannte. Aber wenn mein Einsatz Sinn haben sollte, durfte mir kein Fehler unterlaufen.
Alle Tische waren gedeckt. Das Küchenpersonal teilte Schüsseln aus.
»An jedem Tisch sitzt einer von uns«, sagte Fletch. »Ich setze Sie an den Tisch mit James Herold.«
»Okay.«
Es war 19 Uhr. Überall im Gebäude schrillten Glocken. Dann brandete die Flut der Schüler heran.
Fletch und ich hatten uns seitlich der breiten Eingangstür postiert. Die ersten kamen herein, dann riß der Strom nicht mehr ab. Jungen und Mädchen, die jüngsten etwa zehn, die ältesten 21 Jahre. Lachend und schwatzend strömten sie an uns vorbei zu ihren Plätzen. Alle grüßten den Schulleiter. Von mir nahm kaum jemand Notiz.
Fletch stieß mich an. »Das ist Herold«, sagte er leise. Dabei wies er mit dem Kinn auf einen hünenhaften Burschen. Er war etwas größer als ich und sicherlich auch schwerer. Er wirkte wie Mitte Zwanzig, hatte ein gutgeschnittenes, aber brutales Gesicht und unangenehme helle Augen. Unter dem engen Pullover zeichneten sich gewaltige Muskelpakete ab. James Herold kam an uns vorbei, mit mürrischem Gesicht. Schüler, die zufällig vor ihm gingen, wichen zur Seite. Er war der König hier. Das spürte ich sofort. Auch er grüßte Fletch. Aber sein Gruß war so herablassend und kurz, daß es fast kränkend wirkte.
Zuletzt kamen die Kollegen. 18 Männer, nur wenige älter als vierzig, sowie 15 Damen, einige unter ihnen waren auffallend hübsch und mit sportlichem Chic gekleidet. Anscheinend gab es hier eine Art Rivalität zwischen den jüngsten Lehrerinnen und ihren fast volljährigen Schülerinnen.
Alle wußten, daß ein neuer Kollege erwartet wurde. Viele Blicke streiften mich. Einige der Damen nickten mir zu. Ich wurde neugierig gemustert. Aber viel Freundlichkeit konnte ich nicht bemerken.
Bis jetzt hatte ich Gloria Ellwanger nicht entdeckt. Für einen Moment war ich besorgt. Kam ich schon zu spät? Dann sah ich sie an einem der vorderen Tische. Das Mädchen war wirklich bildhübsch, schlank und groß. Rechts und links von ihr saßen zwei Mädchen, die Gloria offenbar mit großer Raffinesse zu ihren Tischnachbarinnen erwählt hatte. Denn beide sahen alles andere als nett aus. Die kleine Blonde war nicht häßlich, aber so fade und unscheinbar, daß man sie kaum bemerkte. Das andere Mädchen war ein armes Ding mit Hasenscharte, Augenfehler und griesiger Haut.
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