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Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Titel: Jerusalem: Die Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Sebag Montefiore
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Karren die Leichen ein. [138]
    Räumlich drehte sich das Leben um die beiden Tempel – die Grabeskirche und den Tempel des Herrn – und chronologisch um einen Kalender der Rituale. Der Historiker Jonathan Riley-Smith stellte fest: In diesem »Zeitalter intensiver Dramatik, das jede Methode anwandte, um öffentliche Gefühle durch sichtbare Demonstrationen zu verstärken«, ähnelten Jerusalems heilige Stätten Bühnenkulissen, die ständig umgestaltet und verbessert wurden, um diesen Effekt zu erhöhen. An jedem 15. Juli feierte man die Eroberung der Stadt mit einer Prozession, in der der Patriarch praktisch die gesamte Einwohnerschaft von der Grabeskirche zum Tempelberg führte, wo er vor dem Tempel Salomos betete; anschließend zog die Prozession durch das Goldene Tor – durch das der erste Kreuzfahrer, Kaiser Heraklius, 630 das Wahre Kreuz getragen hatte – zu der Stelle an der nördlichen Stadtmauer, an der Gottfried die Stadt gestürmt hatte und die nun ein riesiges Kreuz krönte. Die eindrucksvollste Inszenierung fand Ostern statt. Am Palmsonntag zogen Patriarch und Klerus mit dem Wahren Kreuz vor Sonnenaufgang von Betanien in die Stadt, während ein zweiter Prozessionszug mit Palmzweigen ihm vom Tempelberg entgegenging, um den Patriarchen im Jehoshaphat-Tal zu treffen. Gemeinsam öffneten sie dann das Goldene Tor und zogen über die heilige Tempelplattform, bevor sie im Tempel des Herrn beteten. [139]
    Am Karsamstag versammelten sich die Jerusalemer in der Grabeskirche, um die Entzündung des Heiligen Feuers zu erleben. Ein russischer Pilger sah »die Menge drängelnd und mit Ellbogen stoßend hereinströmen«, weinend, jammernd und schreiend. »Werden meine Sünden verhindern, dass das Heilige Feuer herabkommt?« Der König kam vom Tempelberg herunter, aber wenn er eintraf, stand die Menge selbst auf dem Vorplatz so dicht gedrängt, dass seine Soldaten ihm einen Weg bahnen mussten. In der Kirche nahm der König unter »Tränenströmen«, umgeben von seinen weinenden Höflingen, seinen Platz auf einem Podium vor dem Grab ein und wartete auf das Heilige Feuer. Während die Priester die Vesper sangen, steigerte sich die Ekstase in der Kirche, bis plötzlich »das Heilige Licht das Grab erstaunlich hell und strahlend erfüllte«. Der Patriarch kam mit dem Feuer heraus und zündete die königliche Fackel an. Das Feuer wurde in der Menge von Fackel zu Fackel weitergegeben – und anschließend durch die Stadt über die Große Brücke zum Tempel des Herrn getragen.
    Melisende verschönerte Jerusalem als Tempelheiligtum wie auch als politische Hauptstadt und schuf vieles, was heute noch zu sehen ist. Die Kreuzfahrer hatten einen eigenen Stil entwickelt, eine Synthese aus romanischen, byzantinischen und levantinischen Elementen mit Rundbögen, massiven Kapitellen und fein modellierten Ornamenten, häufig aus Pflanzenmotiven. Die Königin baute die monumentale Sankt-Anna-Kirche nördlich vom Tempelberg am Bethesdateich, die heute das schlichteste, eindrucksvollste Beispiel der Kreuzfahrerarchitektur darstellt. Das dazugehörige Kloster, das bereits als Verwahrungsort für verstoßene königliche Ehefrauen diente und seit einiger Zeit auch Melisendes Schwester Yvette beherbergte, gehörte zu den reichsten in Jerusalem. Einige Läden in den Markthallen tragen noch immer die Inschrift »ANNA«, die belegt, wohin ihre Gewinne flossen; andere sind mit »T« gekennzeichnet und gehörten vielleicht dem Templerorden.
    Auf der großen Brücke auf dem Tempelberg entstand die kleine Ägidiuskapelle. Außerhalb der Stadtmauern erweiterte Melisende die Marienkirche von Jehoshaphat um das Grab der heiligen Maria, wo sie später beigesetzt wurde (ihre Grabstätte existiert noch heute), und errichtete das Betanienkloster, in dem sie Prinzessin Yvette als Äbtissin einsetzte. Im Tempel des Herrn schützte sie den Felsen durch ein kunstvoll verziertes Metallgitter (heute größtenteils im Haram Museum; ein kleiner Abschnitt, der sich noch an Ort und Stelle befindet, enthielt angeblich einen Teil der Vorhaut Jesu und später Haare aus Mohammeds Bart). [140]
    Als Usama ibn Munqidh und sein Herr, der Atabeg von Damaskus, zum Staatsbesuch bei Fulk und Melisende waren, durften sie auf dem Tempelberg beten und erlebten dort die Isolation wie auch die kosmopolitische Haltung ihrer fränkischen Gastgeber.
    Usama ibn Munqidh und Juda Halevi: Muslime, Juden und Franken
    Usama hatte sich mit einigen Templern angefreundet, die er in Krieg und

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