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Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Titel: Jerusalem: Die Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Sebag Montefiore
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Muslime gleichermaßen entsetzt: Er sah den Pascha von Jerusalem vor der Grabeskirche thronen und Tausende Pilger mit Kissen und Decken hineinströmen, um die Nacht in der Kirche zu verbringen. Am Karfreitag folgte er der Prozession der Franziskaner, die ein lebensgroßes Wachsmodell Jesu auf einem Leintuch auf der Via Dolorosa trugen und dann ans Kreuz schlugen. Unter Tausenden Menschen in der Grabeskirche und ihren Höfen beobachtete er die Zeremonie des Heiligen Feuers, »das wilde Geschrei«, das Schlagen der Becken, das Pfeifen der Frauen« – ein Betragen, das »besser zu bacchantischen Festen passte«. Als das Feuer erschien, liefen die Pilger umher »wie Wahnsinnige, schoben die Flammen in ihre Kleider und in ihren Busen und beteuerten Fremden, dass sie sich nicht daran verbrennen würden«.
    Aber dieser Verfasser von Kirchenliedern war ein leidenschaftlicher Protestant, der Jerusalem ebenso verehrte wie die Katholiken und die orthodoxen Christen. Auf die Bibel zurückgreifend, betete er inbrünstig am Grab Christi und den Gräbern der Kreuzfahrerkönige. Nach seiner Rückkehr widmete er seine Reisebeschreibung A Relation of a Journey begun AD 1610 dem jungen Prinzen von Wales, Karl, dessen Vater, Jakob I. kurz zuvor 54 Gelehrte mit einer englischen Bibelübersetzung beauftragt hatte, die allen zugänglich sein sollte. Sie lieferten 1611 ihre autorisierte Bibelausgabe auf der Grundlage früherer Übersetzungen von William Tyndale und anderen ab, die diese heilige Schrift in einer meisterhaften Übertragung in ein poetisches Englisch lebendig machte. Diese Bibel wurde zum spirituellen und literarischen Kern des Anglikanismus, Englands besonderer Ausprägung des Protestantismus, und zum »Nationalepos Britanniens«, wie ein Schriftsteller es nannte – eine Geschichte, die die Juden und Jerusalem ins Zentrum des britischen und später auch amerikanischen Lebens rückte.
    Sandys war ein Bindeglied zwischen der realen Stadt und dem Jerusalem der Neuen Welt. Er ging 1621 als Finanzverwalter der Virginia Company nach Amerika und führte während seines zehnjährigen Aufenthalts in Jamestown den Überfall auf die eingeborenen Algonquin an, wobei er zahlreiche von ihnen tötete: Protestanten waren nicht minder fähig, widerspenstige Ungläubige zu töten, als die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften des 17. Jahrhunderts. Aber Sandys war dort nicht der einzige Jerusalem-Pilger und Abenteurer: Henry Timberlake war zu dieser Zeit ebenfalls in Virginia. Ihre Wallfahrt in das neue gelobte Land Amerika war zumindest teilweise von der protestantischen Vision des himmlischen Jerusalem inspiriert.
    Sandys’ und Timberlakes Landsleute in Virginia waren konservative Anglikaner, wie Jakob I. und sein Sohn Karl sie bevorzugten. Die Könige vermochten jedoch die Erwartungen eines neuen inbrünstigen und radikalen Protestantismus nicht zu dämpfen: Die Puritaner glaubten an die grundlegende Wahrheit der Bibel, verknüpften damit aber unmittelbare messianische Hoffnungen. Der Dreißigjährige Krieg zwischen Katholiken und Protestanten verstärkte nur noch das Gefühl, dass der Jüngste Tag nah sei. Es waren merkwürdige Zeiten, die in allen drei Religionen eine stark mystische Erregung schürten. Es gab Missernten. Der Schnitter Tod zog in Gestalt von Seuchen, Hungersnöten und Religionskriegen durch Europa und tötete Millionen Menschen.
    Tausende Puritaner flüchteten vor der Kirche Karls I., um in Amerika neue Kolonien zu gründen. Während sie auf der Suche nach Religionsfreiheit über den Atlantik fuhren, lasen sie in ihren Bibeln von Jerusalem und den Israeliten und sahen sich als das auserwählte Volk, das mit Gottes Segen ein neues Zion in der Wildnis Kanaans aufbauen sollte. »Kommt, lasst uns in Zion das Wort Gottes verkünden«, betete William Bradford, als er von der Mayflower an Land ging. Der erste Gouverneur der Massachusetts Bay Colony, John Winthrop, war überzeugt: »der Gott Israels ist unter uns«, und führte Jeremia und Matthäus an, um seine Siedlung als »Stadt auf einem Hügel« zu preisen – Amerika als das neue Jerusalem. Schon bald sollte es 18 Orte mit dem Namen Jordan, 12 Kanaans, 35 Bethels und 66 Jerusalems oder Salems geben.
    Die Katastrophenangst und Heilserwartung wuchsen gleichermaßen: Bürgerkriege schlugen in Frankreich und England Wunden, während in Osteuropa der Hetman Chmelnyzkyj und seine marodierenden Kosaken Zehntausende polnische und ukrainische Juden ermordeten. Nachdem Karl

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