Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Jerusalem als »modernes Babel« bezeichnet, und die vielen verschiedenen Welten vermischten sich ständig, ungeachtet aller Ausbrüche von Gewalt und aller Zeichen drohenden Unheils. Das kosmopolitische Jerusalem, schrieb Hazem Nusseibeh, »war eine der aufregendsten Städte, in denen man leben konnte«. Immer neue Cafés wurden eröffnet, frequentiert von einem neuen Typ von Intellektuellen und Flaneuren, die ihr Leben von den Orangenhainen ihrer Familie, mit Zeitungsartikeln oder Beamtengehältern finanzierten. In den Cafés traten Bauchtänzerinnen der gesitteten ebenso wie der lasziveren Variante auf, daneben Varietékünstler und traditionelle Balladensänger, Jazzbands und ägyptische Unterhaltungssänger. In den frühen Mandatsjahren hielt der extravagante Intellektuelle Khalil Sakakini Hof im Café Vagabond am Jaffator, wo dieser sogenannte Prinz des Müßiggangs, benebelt von den Rauchschwaden der Wasserpfeifen und vom libanesischen Arak, über Politik schwadronierte und seine hedonistische Philosophie zum Besten gab – »Müßiggang ist der Wahlspruch unserer Partei. Der Arbeitstag besteht aus zwei Stunden« –, um sich anschließend dem »Essen, Trinken und Lustigsein« zuzuwenden. Mit dem lockeren Lebenswandel war allerdings Schluss, nachdem er zum palästinensischen Bildungsinspektor ernannt worden war.
Wasif Jawhariyyeh, der Oud-Spieler mit den städtischen Sinekure-Ämtern, war einer, der dem Müßiggang lange gefrönt hatte: Sein Bruder war Inhaber des Cafés Jawhariyyeh in der Jaffastraße beim russischen Komplex, in dem eine Musikgruppe spielte und Varietévorstellungen gegeben wurden. Ein Stammkunde des nahe gelegenen Postal Café beschrieb die »kosmopolitische Kundschaft: ein zaristischer Offizier mit weißem Bart, ein junger Buchhalter, ein Maler, eine elegante Dame, die ständig über ihre Ländereien in der Ukraine redete, und viele junge Immigranten und Immigrantinnen«.
Die meisten Briten genossen dieses »Kulturgemisch«, allen voran Sir Harry Luke, der einem typischen Jerusalemer Haushalt vorstand. »Das Kindermädchen kam aus Südengland, der Butler war Weißrusse, [257] der Diener ein zypriotischer Türke, der Koch Achmed, der Gauner, war ein schwarzhäutiger Berber, der Küchenjunge ein Armenier, der sich zu unserer Überraschung als Mädchen entpuppte; das Hausmädchen ist Russin.« Nicht alle waren so begeistert wie er. »Mir sind sie alle zuwider«, erklärte General Walter »Squib« Congreve. »Schreckliche Leute. Der ganze Haufen ist nicht einen einzigen Engländer wert.«
Ben-Gurion und der Mufti: Das schrumpfende Sofa
Der Mufti war auf der Höhe seiner Macht und seines Ansehens, aber angesichts des breiten Spektrums politischer Ansichten unter den Arabern war es nicht leicht für ihn, alle für seine Ziele zu gewinnen. Es gab liberale, westlich orientierte Intellektuelle wie George Antonius, es gab Marxisten, es gab weltliche Nationalisten und es gab islamistische Fundamentalisten. Zwar konnten viele Araber den Mufti nicht ausstehen, aber die meisten waren mittlerweile zu der Überzeugung gekommen, dass nur der bewaffnete Kampf die Zionisten noch aufhalten konnte. Im November 1933 führte Musa Kazem Husseini, der nicht viel übrig hatte für seinen Cousin, den Mufti, Demonstrationen in Jerusalem an, die zu Unruhen führten, in denen 30 Araber getötet wurden. Als Musa Kazem im darauffolgenden Jahr starb, verlor die arabische Gemeinde einen erfahrenen Staatsmann, der bei allen hohes Ansehen genossen hatte: »Viele Menschen weinten um Musa Kazem«, schrieb der spätere PLO-Führer Ahmad Shuqairi, »während Haj Amin (der Mufti) viele Menschen zum Weinen brachte.« Im zweiten Jahrzehnt der Mandatsregierung kamen über eine Viertelmillion jüdischer Einwanderer nach Palästina, mehr als doppelt so viele wie in den ersten zehn Jahren. Alle Araber, ob gebildete Angehörige der Jerusalemer Oberschicht oder radikale Muslimbrüder, waren zu der Überzeugung gekommen, dass die Briten weder dem ungehemmten Zustrom der Juden Einhalt gebieten noch den immer besser organisierten Jischuw, wie die jüdische Gemeinde damals genannt wurde, in die Schranken weisen würden. Ihnen lief die Zeit davon. 1935, auf der Höhe der Einwanderungswelle, kamen 66 000 Juden ins Land. In dieser Zeit des Verfalls, in der Krieg oft als nationales Reinigungsritual betrachtet wurde, waren selbst Intellektuelle wie Sakakini und Schöngeister wie Jawhariyyeh der Meinung, dass nur noch Gewalt Palästina retten
Weitere Kostenlose Bücher