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Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Titel: Jerusalem: Die Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Sebag Montefiore
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Betanien. Am Montagmorgen ging er wieder in die Stadt, dieses Mal aber in die Königshalle des Tempels.
    Zum Passahfest war Jerusalem völlig überfüllt und voller Gefahren. Macht gründete sich auf Geld, Rang und römische Beziehungen. Aber die Juden teilten nicht den römischen Respekt vor militärischem Ruhm oder kaltem Profit. Respekt basierte in Jerusalem auf Familienzugehörigkeit (Tempelobere und Herodierprinzen), Bildung (phärisäische Lehrer) und – als Joker – auf göttlicher Inspiration. In der Oberstadt auf der anderen Talseite, dem Tempel gegenüber, lebten die vornehmen Juden in griechisch-römischen Villen jüdischer Prägung: Im sogenannten Herodespalast, der dort ausgegraben wurde, gab es große Empfangssäle und Mikwen. Hier standen der Palast des Antipas und des Hohepriesters Kaiphas. Aber die eigentliche Autorität in Jerusalem war der Präfekt, Pontius Pilatus, der seine Provinz in der Regel von der Küstenstadt Caesarea aus verwaltete, aber zum Passahfest immer in die Stadt kam und in Herodes’ Zitadelle wohnte.
    Antipas war nicht der einzige jüdische König in Jerusalem. Helena, die Königin des kleinen Königreichs Adiabene im heutigen Nordirak, war zum Judentum übergetreten und nach Jerusalem gezogen; sie ließ sich einen Palast in der Davidsstadt bauen, stiftete die goldenen Leuchter über dem Eingang zum Heiligtum des Tempels und spendete nach Missernten Nahrungsmittel. [63] Auch Königin Helena dürfte sich zum Passahfest in der Stadt aufgehalten und wahrscheinlich Schmuck getragen haben, wie man ihn erst kürzlich in Jerusalem bei Ausgrabungen gefunden hat: eine große, goldgefasste Perle mit zwei Anhängern, die aus goldgefassten Perlen und Smaragden bestehen.
    Nach Josephus’ Schätzung kamen zum Passahfest 2,5 Millionen Juden in die Stadt. Das ist sicher übertrieben, aber es waren Juden »aller Länder« in der Stadt, aus Parthia und Babylonien bis hin nach Kreta und Libyen. Das Gedränge kann man sich nur vorstellen, wenn man Mekka während des Hadsch gesehen hat. Da jede Familie zum Passahfest ein Lamm opfern musste, war die Stadt voller blökender Schafe – es wurden 255 600 Lämmer geopfert. Es gab viel zu tun: Pilger mussten jedes Mal ein Bad in einer Mikwe nehmen, bevor sie in den Tempel gingen, und sie mussten ihre Opferlämmer in der Königshalle kaufen. Nicht alle übernachteten in der Stadt. Viele fanden wie Jesus Unterkunft in den umliegenden Dörfern oder kampierten vor der Stadtmauer. Während der Geruch brennenden Fleisches und zu Kopf steigenden Weihrauchs durch die Stadt wehte – und hallende Trompetenstöße Gebete und Opfer ankündigten –, konzentrierte sich alles auf den Tempel, nervös beäugt von den römischen Soldaten auf der Burg Antonia.
    Nun ging Jesus in die hoch aufragende Königshalle, das quirlige, bunte, überfüllte Zentrum allen Lebens, in dem sich die Pilger sammelten, um ihre Unterbringung zu organisieren, Freunde zu treffen und ihr Geld gegen das tyrische Silber einzutauschen, das sie brauchten, um Opferlämmer, Tauben oder, wenn man reich genug war, Ochsen zu kaufen. Die Königshalle gehörte nicht zum eigentlichen Tempel oder zu seinen Innenhöfen, sondern war der frei zugängliche, öffentlichste Bereich des gesamten Komplexes, der als Forum angelegt war. Hier griff Jesus das Tempel-Establishment an: »Mein Haus soll ein Bethaus sein; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht.« Er warf die Stände der Geldwechsler um, zitierte die Prophezeiungen Jeremias, Sacharjas und Jesajas und legte sie aus. Seine Demonstration erregte zwar Aufsehen, aber nicht genug, um ein Eingreifen der Tempelwachen oder der römischen Soldaten zu rechtfertigen.
    Nach einer weiteren Nacht in Betanien ging Jesus am folgenden Morgen wieder in den Tempel, um mit seinen Kritikern zu diskutieren. [64] Die Evangelien schildern die Pharisäer als Gegner Jesu, spiegeln damit aber wahrscheinlich die Lage fünfzig Jahre später wider, als diese Schriften verfasst wurden. Denn die Pharisäer waren die flexiblere, populärere Sekte, und manche ihrer Lehren mögen denen Jesu recht ähnlich gewesen sein. Seine wahren Feinde waren die Tempeloberen. Die Herodier forderten Jesus mit einer Frage nach den Steuerzahlungen an Rom heraus, aber er antwortete geschickt: »So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.«
    Jesus bezeichnete sich nicht als Messias, sondern betonte das Schma Israel, das grundlegende jüdische Gebet an den einen einzigen Gott und die

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