Jerusalem
Altäre der neuen Basilika eingeweiht hatte: Urban, einst einfacher Mönch, später Prior dieser Abtei, jetzt als Papst der oberste Reformator des Benediktinerordens. Der Gesang vom Chor her verstummte für wenige Atemzüge.
Abt Hugo wandte den hageren Kopf. Kardinal Remy d'Aretin, jenseits der sechzig und schneehaarig, hielt seinen Blick auf die Fresken im Chor geheftet; von der monumentalen Malerei waren erst Teile fertiggestellt. Die schwarzen Umrisslinien auf der Grundierung und der fertig gemalte Kopf Christi »in der Glorie« traten, zum Teil goldfunkelnd im Kerzenlicht, prunkvoll und Ehrfurcht gebietend hervor.
Der Abt ließ die Lehnen seines Stuhls los und blickte, ohne zu lesen, in seinen Psalter. Seine Vorschau rechnete nicht mit Jahren, sondern mit Menschenaltern; nicht mit dem Jahrzehnt, das ihm, so Gott wollte, noch blieb. Sein Vorgänger, Abt Odilo Venerabilis, hatte ebenso empfunden und gehandelt. Papst Urban II., gegenwärtig beim Konzil zu Tours, war von den gleichen Visionen beseelt.
Hugo richtete seine Blicke zur ersten Reihe der Gläubigen und zur Begleiterin eines der Grafen. Das Kerzenlicht schmeichelte ihrer hochbrüstigen Schönheit. Abt Hugo dachte an die sündige Magdalena, unterdrückte diesseitiges Begehren und betrachtete das Kind, ein unschuldiges zweijähriges Mädchen, straff gebunden, in ihrem schlanken Arm.
Das schlafende Kind schien d'Aretin wie aus dem Gesicht geschnitten. Integer vitae scelerisque purus ... , dachte der greise Abt. Wer von Lastern frei und von Frevel rein lebt, der bedarf nicht maurischer Speer und Bogen. Was den Kindern in die Wiege gelegt wurde, war für die Alten nur schwer zu erreichen.
Jedes gemurmelte Wort ging im Gesang unter, der die Mauern zu erschüttern schien und alle Herzen zittern ließ. Im Kirchenschiff, zwischen dem Lettner, der Gläubige und Altarraum voneinander trennte, und dem geschlossenen Kirchenportal, brannten deutlich weniger geheiligte Kerzendochte. Die Menge der Gläubigen verschmolz zu zwei großen Blöcken, die sich flüsternd, betend, murmelnd und unruhig bewegten, und aus denen mitunter einzelne Gesichter oder Teile von Rüstungen hervorblitzten. Von den Körpern, aus feuchter Kleidung und nassem Schuhwerk dampfte und stank es ins Dachgewölbe hinan und mischte sich mit süßlichem Weihrauchduft.
Der »Eremit« Robert d'Arbrissel, dessen glühendes Begehren es war, Begründer des Ordens von Fontrevault zu werden, hatte seinen Psalter aufgeschlagen und schien, unbeeindruckt von der festlich aufgeregten Stimmung der Versammelten, angestrengt zu lesen.
Für eine große Anzahl der Adligen und der klerikalen Würdenträger waren die flammenden Aufrufe nach dem Konzil noch kein Grund, mit der bisherigen Bequemlichkeit zu brechen, den Besitz zu verpfänden und unnatürliche Eile an den Tag zu legen. Jerusalem, Ziel bewaffneter Pilgerzüge, lag fern hinter dem Horizont der burgundischen Ebenen, und eine beschwerliche Wallfahrt ins Land der Ungläubigen wollte und konnte sich heute kaum ein einziger Teilnehmer dieser Vesper vorstellen.
Man hielt es nicht mit dem heiligen Eifer von Hugos leiblichem Bruder, Raimund de Saint-Gilles, des Grafen von Toulouse, den es an die Spitze eines waffenklirrenden Pilgerheeres im Zeichen des Kreuzes drängte. Papst Urban feierte das Fest wahrscheinlich in Limoges oder Poitiers, also erübrigte sich vorauseilender Gehorsam. Dennoch stand Bruder Raimunds Absicht fest.
Viel aufregender waren die Vermutungen, das Tuscheln und der Verdacht, die mit dem Anlass des Gottesdienstes zusammenhingen. Nicht einmal ein Jahrzehnt war es her, dass in Italien die Ernten verdorben und die Hungersnot so unbarmherzig groß gewesen waren; man hatte berichtet, dass die Verhungernden einander aufgefressen hätten. Im letzten Jahr war auch in Burgund die Ernte am Halm verdorrt, denn aus dem unbarmherzigen Himmel war vom Weidemond bis zum Weinmond kein einziger Tropfen Regen gefallen. Das Elend war vorausgesehen worden, denn an zehn Tagen im Herbst des Jahres 1094 waren unzählige feurige Erscheinungen, wie stürzende Flammensterne, am Nachthimmel zu sehen gewesen; machte sich die Hölle zum Armageddon bereit?
Aber Gott hatte alle Ernten dieses Jahren trefflich gedeihen lassen; auch der Wein versprach schwer und gut zu werden. Also kein Grund zur Besorgnis. Selbst Hugo von Vermandois, Bruder des französischen Königs Philipp, über den das Konzil zu Clermont wegen Ehebruchs den Bann geschleudert hatte, saß mit sich
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