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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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ähnelte. Sie stiegen in die Tiefe der Schlucht hinunter und töteten jeden, der sich noch bewegte oder jammerte. Auf dem Weg von Nikaia her kamen noch mehr Reiter, und auch der letzte von ihnen würde noch vor Mittag die Wälle Civetots erreicht haben.
 
    Das Töten und Morden war zu Ende. Berenger senkte den Kopf und sagte leise: »Auch ohne göttliche Eingebung und ohne seherische Fähigkeiten war das alles letztendlich vorhersehbar. Oft genug sind sie alle gewarnt worden.«
    »Oft genug und drängend genug, weiß Gott, und in aller Deutlichkeit«, fügte Rutgar hinzu. »Was tun wir jetzt? Was können wir noch tun?«
    »Die Türken sind zwischen uns und Civetot«, sagte Chersala. »Und hinter uns, von Nikaia her, sind noch mehr Türken.«
    Sie hatten ohnmächtig zusehen müssen, wie zwanzigtausend Pilger dem Hinterhalt der Seldschuken zum Opfer gefallen waren. Nur wenige hatten entkommen können und befanden sich jetzt in wilder Flucht auf dem Weg nach Civetot. Einige Male war Rutgar nahe daran gewesen, den Rappen zu spornen und sich in den Kampf zu stürzen, aber ebenso wie Berenger hielt ihn der Gedanke an den sicheren eigenen Tod im letzten Atemzug davon ab. Vorsichtig zogen sie sich aus dem Versteck zurück und trabten in die Richtung der Felsenburg.
    Rutgar wandte sich dreimal um, blickte in die Richtung Civetots und sah große Vogelschwärme, die sich niederzulassen versuchten und jedes Mal wieder von etwas Unsichtbarem aufgescheucht wurden.
    »Es ist so weit!«, sagte er und legte seine Hand auf Chersalas Schulter. Er deutete auf die Rauchsäulen der Feuer innerhalb der Civetot-Palisaden im Osten. »Sie kämpfen nicht mehr. Reite zur Fischerfestung, Schönste.«
    »Ich höre und sehe nichts vom Kampf um Civetot, Rutgar«, sagte sie. Er starrte in ihre flirrenden Augen und antwortete:
    »Die Vögel, Chersala! Und auch wenn es zu früh sein sollte - bring dich in Sicherheit.«
    »Nach Drakon. Zu Vater Gautmar?«
    »Es ist besser so. Zuerst aber zu den Fischern. Wir sehen nach, ob wir helfen können.«
    Sie galoppierten an und blieben erst stehen, als sie freien Blick auf das Meer hatten. In achtungsvoller Entfernung dümpelten die Boote der Fischer. Rutgar rollte den Reitermantel auf und begann ihn zu schwenken, Chersala hielt das scheuende Pferd. Nach viel zu langer Zeit sah einer der Fischer das Signal und zog das Segel auf, ließ es augenblicklich wieder herunter.
    »Faroard hat unser Zeichen gesehen. Sie segeln nach Konstantinopel, nicht wahr?«, sagte Chersala leise. »So wie ihr es ausgemacht habt?«
    Die höchsten Teile der Ruine waren in gleißende Sonnenstrahlen getaucht. Die Vogelschwärme waren nach Osten abgezogen, aber in weit größerer Höhe näherten sich, ebenso winzig wie beharrlich, schwarze, sichelförmige Schattenrisse. Aasvögel!
    »Sie haben es versprochen«, sagte Rutgar und half Chersala auf den Pferderücken. »Wir dürfen den Seldschuken nicht in den Weg kommen ...«
    Rutgar stellte den Fuß in den Steigbügel, stieg auf und lenkte den Wallach auf den Weg, auf dem sie hierhergekommen waren. Berenger folgte schweigend. Rutgars Herz hämmerte vor Aufregung, auf seinem Rücken sammelte sich kalter Schweiß.
 
    Die vielen Blätterhütten und die wenigen Zelte außerhalb der Palisaden Civetots waren menschenleer. Die ersten Gläubigen sammelten sich auf dem Platz vor dem Altar in der Mitte der Festung. Es war unnatürlich still. Mit gewohnter Trägheit begann das Tagewerk; noch schliefen die meisten Zurückgelassenen. Gefüllte Wasserkessel wurden zu den Feuern geschleppt, die Priester bereiteten die erste Messe des Tages vor.
    Kinder liefen umher, eine Gruppe Frauen ging zum Strand, um Decken und Kittel im Meerwasser einzuweichen und zu waschen. Schafe, Ziegen und Kühe wurden von alten Frauen gemolken. Ein paar Greise sägten und hackten Treibholz für Feuer, das sie aus der Bucht geholt hatten; Vögel zwitscherten in den Baumkronen.
    Zuerst hielten die alten, schlecht bewaffneten Torwächter in ihren Reden inne und setzten die Becher ab, die sie eben mit Morgenaufguss aus wildwachsenden Kräutern gefüllt hatten. Sie hoben die Köpfe, spähten blinzelnd nach Süden und sahen nichts außer blendendem Sonnenlicht.
    »Hört ihr's nicht?«, fragte einer und hielt die offene Hand hinter sein Ohr. Einige Atemzüge später vernahmen sie undeutlichen, von Gefahren schwangeren Lärm. Sie vermochten nicht zu erraten, woraus sich dieses Malmen zusammensetzte. Aber es wurde lauter und

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