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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Fischer schliefen in ihren dümpelnden Booten, ein paar Pfeilschüsse vom Ufer entfernt am steinernen Anker. Rutgars Waffen und der Sattel lagen bereit, die Pferde fraßen Gras, das Rutgar am frühen Abend geschnitten hatte. Weit und breit waren keine Lichter zu sehen; die wenigen Laute der Tiere bewiesen Rutgar, dass sich kein Riesenheer im Schutz der Nacht der Burg näherte.
    »Das Sultansheer wird Civetot angreifen?«, sagte Chersala nach einer Weile und legte den Arm um seine Schultern. Sie fürchtete sich in der Stille dieser Nacht, deren Weben und Säuseln für die Frau eine unirdische Bedeutung hatte.
    »Die Christenritter, die in Civetot lagern, werden Nikaia angreifen«, antwortete er und spürte Chersalas kalte Fingerkuppen auf seiner Haut. Seine Begierde begann ein zweites Mal zu erwachen. »Sie wollen die Toten von Xerigordon rächen!«
    Zwei Zehntage im Weinmond waren vergangen. Das unbeschwerte Leben, dachte Rutgar, das Chersala und er bei den Fischern geführt hatten, war unwiderruflich vorbei. Die große Gnade des Herrn hatte ihnen schöne Tage und Nächte voller Leidenschaft beschert, aber sie galt keine Ewigkeit lang. Rutgar zog Chersala auf seinen Schoß, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und näherte seine Lippen den dunklen Spitzen ihrer Brüste.
    Sie atmete schwer und begann zu zittern; ihre Lippen schmeckten nach Wein, als sie ihn leidenschaftlich küsste und unverständliche Worte murmelte.
 
    In Civetot, mühsam versorgt durch die Schiffsladungen aus Konstantinopel, gärten Unzufriedenheit, Angst und Angriffslust. Schließlich hatte sich im Heeresrat Gottfried Burel mit lauter, schneidender Stimme gegen Walter Sans-Avoir und die anderen durchgesetzt. Am frühen Abend waren die Anführer des Rates zusammengekommen, und schon vor Mitternacht herrschte Einigkeit: Töricht, gegen den selbstgewählten Auftrag und überdies ein Zeichen von Feigheit sei es, sagten am Ende der aufgeregten Zusammenkunft alle Fürsten, dem Feind nicht den Kampf anzubieten und ihn im Zeichen des Kreuzes in die Flucht zu schlagen.
    Reinhold von Breis, Fulk von Orléans, Hugo von Tübingen und Walter von Teck erteilten ihren Knappen und Kriegsknechten den Befehl, sich ohne Lärmen zu rüsten und bei den Unterführern zu versammeln. Noch in der Nacht hub in Civetot fieberhaftes Tun an. Kienspäne und Fackeln brannten, Lichter bewegten sich in verknäuelten Spuren durch das Gewimmel aus einigen Tausend Männern. Die Pferde wurden gesattelt und getränkt, alle Waffen, Helme, Panzer und Kettenhemden zusammengetragen, angelegt und geschnürt. Ein Trupp nach dem anderen scharte sich um die Anführer und verließ so leise wie möglich die Umzäunung. Im Fackellicht blitzten Lanzenschneiden, Dolche und die Waffen aus Sensen, Sicheln und abgebrochenen Schwertern, die an langen Stangen befestigt waren.
    Gottfried Burel wusste, dass ihm fast zwanzigmal tausend Männer folgten; Kinder, Frauen, Kranke, Alte und hinfällige Priester blieben im Lager, schliefen weiter, wälzten sich auf harten Lagern oder beteten, Gott möge sie erlösen.
    Die Sterne blinkten kalt und verschwanden vom Himmel, das erste Tagesgrau erschien im Osten über dem Land. Ringsherum lärmten wie an jedem Morgen die Vögel.
    Es dauerte lange, bis die Berittenen die Festung durch das Südtor verlassen und sich an die Spitze der Wartenden gesetzt hatten. Walter von Breteuil und die Brüder von Zimmern reihten sich mitsamt ihrem Kriegsgefolge den gepanzerten Berittenen an; Wilhelm von Poissy und Rudolf von Brandis folgten ihnen. Man schrieb den 21. Tag im Weinmond; der Morgen war kalt und versprach einen kühlen Tag.
    Die Reiterei bog auf den von Gestrüpp gesäumten Weg ein, der den Namen »Straße« kaum verdiente. Tausend Schritte jenseits der Palisaden hatte sich der Heerwurm schon in zwei Teile gegliedert - die Reiterei ritt vorweg, dann war eine Lücke entstanden, und Heinrich von Schwarzenberg mit seinem zahlreichen Gefolge führte die Fußkämpfer an.
    Der Pfad war schmal, mehr als drei Männer vermochten nicht nebeneinanderzugehen. Nur zwei konnten nebeneinanderreiten. Über den Baumkronen hatte sich der Himmel fahlblau gefärbt. Noch vermochten die waffenstarrenden Pilger keine Farben zu unterscheiden; alles verschmolz zu Schwarz, Grau und dünnem Nebel, der schmutziger Milch glich.
    Inzwischen bildete das Heer sechs Kolonnen, an deren Spitze zerschlissene, ausgebleichte Fahnen geschwenkt wurden. Auf dem Weg, tiefer in die Schlucht hinein und der

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