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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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den Türmen und dem Tor und schleuderten es, der eigenen Verbrennungen und der dichten Rauchwolken nicht achtend, auf die Türken.
    Die Raserei wütete weiter. Kranke wurden auf ihren Lagern erschlagen oder von den Hufen der Pferde zertrampelt. Das Geschrei machte selbst die Furchtlosesten zu zitternden, winselnden Bündeln der Angst. Wie ein Keil bohrten sich die Seldschukenkrieger in das Rund des Lagers, schwärmten nach beiden Seiten aus und trieben Kinder und Heranwachsende beider Geschlechter rücksichtlos mit Geschrei und Schlägen zu Gruppen zusammen.
    Auch Graf Heinrich von Schwarzenberg, brüllend, verwundet und blutend, wehrte sich verbissen. Seine Leute schleppten ihn als tot zum Südtor und retteten sich, während die Festung sich mit Eindringlingen füllte. Noch immer ergossen sich vom Bergpass herunter Teile des seldschukischen Heeres zum Fuß der Festung und zum Tor, drangen ungehindert ein und wüteten unter den Männern, die sich zu verteidigen wagten.
    Als die Sonne im Mittag brannte, schien alles vorbei zu sein. Die Seldschuken rissen den Kindern die Kleidung herunter. Diejenigen, deren Äußeres ihnen gefiel, ließen sie am Leben und peitschten sie aus Civetot hinaus, wo sie, nach Geschlecht getrennt, in Sklavenpferche gesperrt wurden. Viele andere wurden erschlagen, erdolcht oder erdrosselt, nachdem die Krieger sie im Siegesrausch missbraucht hatten. Der Boden Civetots, verdorrtes Gras und nackter Sand, war blutgetränkt. Bald waren alle Frauen und Männer, die so aussahen, als würden sie arbeiten können, als Sklaven gebrandmarkt und weggebracht. Niemand wusste, wie viele Christen dem Ansturm der Türken hatten entfliehen können.
    Am frühen Nachmittag war Civetot fest in der Hand der Truppen des Sultans. Innerhalb der Palisaden lebte kein Christ mehr. Die Gefangenen marschierten mit einem Teil der Truppen nach Nikaia; im weiten Umkreis der Festung lagen Hunderte Tote und reglose oder zuckende Sterbende im staubbedeckten Gras. Vom Eingang der Schlucht bis zur höchsten Stelle im Tal des Drakon herrschte das Schweigen tausendfachen Todes. Über die bewegungslosen Körper der Erschlagenen, Erstochenen, von Pfeilen Durchbohrten, Ausgebluteten und den Wenigen, die noch nicht tot, aber tief besinnungslos waren, machten sich Ameisen, Käfer und schillernde Fliegen her. Aus dem Nachmittagshimmel, aus dem eine messingfarbene Sonne glühte, senkten sich die ersten Aasgeier.
 
    Sie ritten weit im Westen auf dem verborgenen Pfad zur Uferfestung. Berenger schwieg, und Rutgar deutete die Richtung an. Als sie eine Stunde lang im Schritt und Trab geritten waren, endete der furchtbare Lärm aus Civetot. Der graue und schwarze Rauch schwerer Brände stieg auf und wehte nach Westen. Einen Steinwurf vor ihnen gabelte sich der Pfad; links führte er zum Dorf.
    »Der Herr liebt uns, meine Schöne«, sagte Rutgar und glaubte, schon den Rauch des Schmiedefeuers und den Geruch schmorenden Horns aus Gautmars Werkstatt riechen zu können. »Wir leben noch. Oder Er, der alles sieht, hatte seinen Blick nicht auf uns gerichtet. Wir kommen nach, Chersala.«
    Sie hob den Arm, setzte sich im Sattel zurecht und galoppierte an. Wenige Atemzüge später waren nur noch die Hufschläge und das Schnauben ihrer Stute zu hören. Berenger und Rutgar trabten zur Uferburg, vergewisserten sich, dass keines der Fischerboote mehr festgemacht hatte, und ritten, so gut wie möglich in Deckung, entlang des Strandes auf Civetot zu.
    Schon nach einem Fünftel des Weges kamen ihnen die ersten Flüchtenden entgegen und erschraken vor den Verkleideten, bis Rutgar und Berenger sich zu erkennen gaben. Es kamen Dutzende, Hunderte, fast ohne jedes Hab und Gut; schließlich glaubten Berenger und Rutgar, dass sich ungefähr dreitausend Verwundete, Kranke, Alte, Frauen und Kinder gerettet hatten. Im Lauf der nächsten Stunden stießen noch überlebende Ritter und Männer aus deren Gefolge dazu.
    »Mit und ohne unsere Hilfe«, sagte Berenger, nachdem er aus dem Turmausguck hinuntergeklettert war, »werden sie die Burg gegen die Seldschuken halten müssen.«
    »Also im letzten Tageslicht nach Drakon? Das schaffen unsere Pferde gerade noch.«
    »Einverstanden.«
    Die Männer waren ebenso müde wie die Tiere, aber im Schritt und bisweilen Trab erreichten sie das Dorf in der Abenddämmerung. Im langsamen Trab ritten sie in Drakon ein. Sie konnten weder Schafe noch Rinder sehen, es brannte kein Herdfeuer, und nur einige Hühner flüchteten gackernd vor dem

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