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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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verzweifelt in der Dunkelheit. Im Mondlicht zeichneten sich weit draußen die weißen Wogenkämme ab. Peter würde, ebenso wie der Kaiser, die Nachricht vom Untergang des Pilgervolkes schon gehört haben.
    »Und morgen Abend sind wir auch tot - und im Reich Gottes, mit etwas Glück.«
    Beide wussten, dass im Morgengrauen sich unzählbar viele Seldschuken, Mann um Mann, der Burg nähern würden. Jede noch so lange Verteidigung würde den Tod nur hinauszögern können. Siebenundsiebzig lange Tage hatte die riesige Schar in Civetot gelagert; in drei Tagen war alles vorüber.
    »Peters Glaube war groß und echt«, sagte Rutgar. Langsam ging der Krug hin und her. »Aber darüber hinaus hat so vieles gefehlt, Waffenmeister: Gehorsam und Klugheit, Demut und ein klares Ziel.«
    »Wer hätt's uns zeigen sollen?«
    Sie tranken schweigend weiter. Hin und wieder bewegten sich Lichter im Gemäuer, hörte man mitunter Husten und Schnarchen.
    In unregelmäßigen Abständen schlichen Lichter im Halbkreis um die Uferburg; Seldschuken mit lodernden Fackeln ritten hin und her, Gruppen sammelten sich und zerstreuten sich wieder, Schatten schienen zu wandern, fremde Stimmen hallten durch die Nacht. Ab und zu klirrten Waffen; man hörte raues Gelächter und das Wiehern und Prusten von Pferden. Die Seldschuken hatten mit der Belagerung der Uferburg begonnen.
    Mühsam, Schritt um Schritt, tastete sich Rutgar durch das Halbdunkel und kletterte zu seinem Ausguck hinauf. Mondlicht lag auf dem Meer und sprenkelte Wald und Felsen um das Gemäuer. Obwohl der Wind, der von Nord wehte, nicht stärker geworden war, sah Rutgar weit draußen große Wellen mit breiten Schaumkronen. Sie schienen auf die Ufer von Helenopolis zuzukriechen.
    Er kniff die Augen zusammen. Aus den hellen Streifen lösten sich einzelne Punkte. Er glaubte Lichter zu erkennen, Segel. Schließlich bestand kein Zweifel mehr. Es waren Schiffe, die übers Meer auf die Küste zuhielten. Viele Schiffe, eine ganze Flotte.
    Rutgar verließ seinen Platz und suchte nach dem Waffenmeister, der neben dem halb erloschenen Feuer döste.
    »Die Flotte des Kaisers! Sie helfen uns, sie holen uns ab.« Rutgar packte das Handgelenk des Alten. »Still! Kein Geschrei. Sie brauchen noch vier, fünf Stunden.«
    »Die Seldschuken - glaubst du, sie sehen die Schiffe auch?« Aufgeregt kam der Waffenmeister auf die Beine und blickte wild um sich.
    »Vielleicht früher als wir«, antwortete Rutgar. »Wenn es kein Trugbild ist, sind wir bei Sonnenaufgang gerettet.«
    Langsam verging die Zeit, der Krug leerte sich, und später mischte Rutgar Brunnenwasser mit dem letzten Wein. Giovan schlief wieder ein und rutschte zu Boden, wo er friedlich schnarchend liegenblieb. Das Glucksen der Wellen und die Brandung, die auf dem Sand zischelte, verwandelten sich für Rutgar in die Musik der Cherubim und den Gesang der Engel.
    Aus der schwindenden Dunkelheit leuchteten die langen Ruderriemen des ersten Schiffs wie die Strahlen eines Heiligenscheins, der Widerschein vieler Lichter in den Segeln war wie der Himmel über dem Goldenen Jerusalem.
    Als das Geschrei anhub - die Wachen hatten die Flotte des Kaisers gesehen -, fuhr Rutgar aus Halbträumen auf, die vom Tod durch hundert seldschukische Pfeile, von Chersalas bebendem Körper und einer Straße erzählten, die jenseits des Horizonts im Himmel endete.
    Das erste Schiff legte im Morgengrauen an.
 
    Während sich die Flotte auseinanderzog, den Steg von Helenopolis ansteuerte und an den verfallenen Kai der Uferburg heranfuhr, suchte Rutgar nach Berenger. Er fand ihn auf der steinernen Fläche der Anlegestelle, umgeben von einigen Knappen und Priestern. Berenger hielt zwei Fackeln in die Höhe, schwenkte sie und brüllte Befehle. Kaum waren die Planken auf die Quader und in den Sand gekippt, rannten schwer bewaffnete Waräger an Land.
    »Dorthinüber!«, hörte Rutgar Berenger schreien. Seine Stimme klang wie Peitschenknall. »Und nach links! Die Seldschuken sind in einem Halbkreis vor den Mauern!«
    Die Pilger, von Angst erfüllt, hasteten durcheinander. Hunderte kaiserlicher Söldner formierten sich und drangen in die Wildnis an den Flanken der Uferburg vor. Ein Keil Bewaffneter folgte Berengers Zeichen, bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge und besetzte die Stellen hinter den Mauern, an denen Rittersknechte bisher Wache gehalten hatten. Überall starrte die Uferburg von Helmen, Schilden und Lanzen; das Licht der Fackelflammen mischte sich mit dem der

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