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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Übeln anstecken.«
    »Das will ich tun«, sagte er und nahm ihre Hand. »Und nun küsse ich dich zum ersten Abschied.«
    Chersala schüttelte den Kopf, riss sich los und ging mit weiten Schritten zum Haus. Über die Schulter rief sie: »Du sollst nicht sehen, wie ich um dich weine, Grünauge! Komm im Dunkeln auf mein Lager!«
    Sie begann zu rennen; Rutgar hörte dumpf eine Tür ins Widerlager fallen. Der Rappe oder ein anderes Pferd wieherte leise hinter dem Haus. Eine Stunde später ging Rutgar ins Haus und tastete sich in völliger Finsternis zu Chersalas Lager.
 
    Nur ein Kerzenrest in einem schmiedeeisernen Leuchter brannte mit ruhigem Flämmchen. Der Raum war voller Schatten und dem Geruch trocknender Kräuter. Chersala lag mit einem Laken halb zugedeckt; sie war wach, und ihr Haar breitete sich über die Kissen aus. Sie hatte geweint. Rutgar setzte sich auf das Bett, ein helles Viereck im Halbdunkel, und küsste ihr tränennasses Gesicht.
    »Ich will dich nicht verlassen«, sagte er leise. »Ich will dich nicht allein zurücklassen. Aber ... was soll ich tun?«
    Sie blickte ihn aus großen, glänzenden Augen an und schwieg. Er zuckte mit den Schultern und wiederholte:
    »Ich hab dem Eremiten versprochen, ihn und die Pilger zu schützen. Ich bin fremd in eurem Land. Und ich will dich nicht anlügen.«
    Chersala richtete sich auf. Ihr Schatten vereinigte sich mit Rutgars Schatten an der Wand. Sie streckte den Arm aus und zog Rutgar zu sich auf das Kissen herunter. »Bleib bei mir, Liebster.«
    »Um Bauer oder Schmied in Drakon zu werden«, sagte er unschlüssig, »bin ich nicht aus meiner Heimat fortgelaufen. Hätte ich dort ein Lehen, würde ich sagen: Reite mit mir dorthin. Aber ... ich bin nichts, habe nichts und kann kaum etwas.«
    »Hier bekämst du alles«, flüsterte sie.
    »Wir wären ein bettelarmes Paar. Ärmer als viele meiner Pilger.«
    »Vater Gautmar würde gut für uns sorgen.«
    Rutgar vermochte sich vieles vorzustellen. Ein Zusammenleben mit dieser jungen, schönen Frau, der es gelungen war, das Bild Ragenardas zwar nicht verschwinden, aber zu einer von vielen schwankenden Erinnerungen werden zu lassen, würde alle Tage und Nächte bereichern. »Ich glaube dir. Aber draußen wartet Berenger. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen.«
    Sie nickte langsam und hielt sich an seinem Arm fest. Dann schlug sie das Laken zurück und streckte sich aus, verschränkte die Hände im Nacken und zog ein Knie zu sich heran. Ihr dunkler Körper lag zwischen den Falten des Leinens wie Adams Verführerin Lilith.
    »Ich warte auf dich, Grünauge«, sagte sie herausfordernd und räkelte sich, als sie ihr Haar zusammenfasste und die Strähnen zwischen die Brüste legte. Rutgars Begehren wurde stärker als seine verzweifelte Unsicherheit. »So warte ich auf dich.«
    »Du musst nicht lange warten«, antwortete er und schlüpfte aus Wams, Hemd und Hose. »Vielleicht umarmst du mich zum letzten Mal. Die Seldschuken ...«
    Sie legte die Finger auf seine Lippen, dann küsste sie ihn und öffnete langsam ihre Schenkel. Ihr Körper schien zu glühen; sie liebten sich gierig, zerquält und in keuchender Besessenheit, als wüssten sie beide, dass das Schicksal keine Wiederholung zuließ.
 
    Rutgar saß wieder vor dem Haus, als Berenger, leise wie eine Wildkatze, sich der Schmiede näherte und ins Halbdunkel hineinsprach: »Kein Lärm. Keine Fackeln. Keine Seldschuken in der Nähe. Der Herr segne meinen Schlaf. Schläft die Schöne?«
    Er las die Antwort in Rutgars Gesicht, blickte in die Sterne und ging zur Scheune; schon nach einem Dutzend Schritten hörte Rutgar sein Schnarchen.
 
    Nur ungefähr dreitausend Überlebende sammelten sich während des Restes des Tages und in den ersten Nachtstunden in der Ruinenburg westlich von Helenopolis. Priester führten diejenigen, die den Weg nicht kannten, zur namenlosen Stelle am Ufer. Die überlebenden Flüchtigen erkannten einander trotz der ausgestandenen Schrecken wieder: Kinder, Frauen, Männer, Krieger, die wenigen Grafen, die Unversehrten und die Verwundeten hatten sich verschanzt, indem sie alles, was sie tragen konnten, zur Verstärkung der Mauern benutzt hatten.
    Während sie, halbwegs ratlos, sich auf eine grausige Belagerung einrichteten, suchten einige ihrer Reiter entlang der Küste einen Fischer zu finden, der ihren Hilferuf nach Konstantinopel brachte.
 
    Rutgar ritt durch eine Landschaft, über die sich die Stille des Todes gelegt hatte. Vorsichtig, im Schritt, lenkte

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