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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Rutgar, noch zu warten.
    Ein junger Söldner kam die Planke hinunter, lief auf Rutgar zu und hob einen gefüllten Trinkschlauch zu ihm hinauf.
    »Schickt dir unser Anführer Berenger«, sagte er atemlos. »Guter Wein aus Konstantinopel.«
    Rutgar stützte den schweren Balg auf seinen Schenkel, öffnete den Verschluss und trank. Der dicke, süße Wein fuhr wie heißes Blei seinen Schlund hinunter. Ein zweiter Schluck, dann rief Berenger:
    »Mehr davon gibt's nicht in den nächsten Monaten! Ich halte mich an mein Versprechen. Werde Kukupetros von dir grüßen. Leb wohl, Ritterlein!«
    »Leb wohl! Du weißt, wo du mich findest, Berenger!«
    »Dort, wo man Eisen schmiedet.«
    Sorgfältig band Rutgar den Ziegenbalg am Sattel fest und wartete. Die Planke wurde eingezogen und hochgeklappt, die Leinen glitten spritzend um die glitschigen Festmacher, der Anker wurde eingeholt. Dann schoben sich die Riemen ins Wasser, und das Segel glitt am Mast hoch. Schwerfällig legte das erste Schiff ab und glitt zur Seite, bis das Segel zu knattern aufhörte und die Riemen ins Wasser stießen. Rutgar grüßte, winkte und sah die Menschen im Heck kleiner werden.
    »Der Basileus wird die Herren Grafen und ihren Tross entwaffnen«, murmelte Rutgar und wendete das Pferd. »Es war dennoch eine wunderbare Rettung. Dreitausend? Und wie viele waren es zuvor? Dreißigtausend oder mehr? Hat Gott es wirklich so gewollt?«
    Auch seine innere Stimme wusste keine Antwort. Während er das Meer vergeblich nach den Booten Faroards und der Fischer absuchte, erinnerte er sich daran, was er über das Wüten einiger Ritter unter den Juden am Rhein, in Regensburg und Prag erfahren hatte. Der Wein, auf leeren Magen getrunken, half, die trüben Erinnerungen zu vertreiben.
    Rutgar sah die Umrisse des Schiffs kleiner und unbedeutender werden. Das Tor in seinem Leben, mit weit aufgestoßenen Flügeln, war noch immer geöffnet. Aber unmittelbar hinter der Torschwelle waberten undurchdringliche Nebel der Zukunft.
    »Nun«, murmelte er und trieb den Rappen mit den Fersen an, »Faroard findet auch ohne mich nach Drakon. Auf zu Chersala!«
    Eigentlich, sagte er sich, als er auf einem der versteckten Pfade nach Süden ritt, war alles, was er tat, gleich viel oder wenig wert. Ob hier oder wieder bei Peter Venerabilis - er war niemand, konnte nichts, war arm wie eine Kirchenmaus, oder doch nicht: Er besaß Kleidung, gute Waffen, ein Pferd und etwas Silber und Gold, konnte kämpfen und hatte unverwundet überlebt - plötzlich zuckte er zusammen, hielt den Rappen an und stellte sich in den Steigbügeln auf. Er hatte die Seldschuken völlig vergessen; viele Krieger auf dem Rückzug konnten sich hier noch versteckt halten.
    Er blickte um sich, lauschte und wusste nach einiger Zeit, dass er der Einzige war, der den Frieden des Vormittags störte. Im Ostwind, unter hurtigen weißen Wolken, lärmten und flatterten rings um ihn Vögel; er hörte die gewöhnlichen Laute im Wald und im Unterholz, und nirgendwo wieherte ein Pferd oder blitzten Sonnenstrahlen auf Metall. Nur über der Schlucht, die zum Pass führte, kreisten Schwärme schwarzer Aasvögel.
 
    Eine Stunde später hielt Rutgar an der Weggabelung an und überlegte, ob er zu der Schlucht und dem Pass reiten oder den Weg nach Drakon einschlagen sollte. Die Herbstsonne brannte in sein Gesicht, aber der Wind war kühl und trug den Geruch von Schnee und Kälte von Osten her. In diesen Geruch mischte sich, als würden Blutstropfen in Wasser in Schlieren verdünnt, Schwaden aus dem grausigen Ruch von Aas, Fäulnis und Verwesung. Rutgar schüttelte den Kopf, zog am Zügel und trabte nach Westen.

Kapitel XVII
 
A.D. 1096, N ACH DEM W INDMOND (N OVEMBER )
D RAKON
 
»Hilf deinem Nächsten, so viel du kannst, und sieh dich vor, dass du nicht selbst darüber zu Schaden kommst.«
(Sir 29,27)
 
    Noch bevor er das Dorf sah, hörte er den Hufschlag eines im Galopp gehenden Pferdes. Er hielt an, trieb den Rappen rückwärts zwischen die windbewegten Büsche und zog das Schwert. Der Pfad, den er schon einige Male benutzt hatte, war zu schmal und gewunden, sodass schnelles Reiten für Ross und Reiter gefährlich war. Er duckte sich unter einen Eichenast und erwartete den Angriff eines seldschukischen Späherreiters, der sich von rechts näherte.
    Zwischen raschelndem Gebüsch ritt Chersala ins Freie. Sie stand vorgebeugt in den Steigbügeln des Apfelschimmels. Ihr tiefbraunes Haar wehte hinter ihr wie ein kurzer Mantel. Sie ritt an ihm

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