Jerusalem
er den Wallach an einer Wegegabelung nicht zum Schleichpfad weiter, sondern hinüber zur Höhe des Passes. Er warf einen langen Blick in die Schlucht, schloss die Augen und schlug die Hände vors Gesicht. Aus allen Richtungen strichen schwarze Vögel heran.
Er vermochte nicht weit in die Schlucht hineinzusehen, aber was er erkannte, erfüllte ihn mit eisigem Entsetzen. Hunderte, Tausende toter Körper lagen nebeneinander, aufeinander und übereinander, zum Teil ihrer Waffen beraubt, wie in einem See trocknenden Blutes. Rutgar bekreuzigte sich langsam und fühlte, wie er innerlich erstarrte. Er schüttelte sich; plötzlich fror er. Stockend, fast flüsternd, formte er Worte, die für ihn kaum Sinn ergaben:
»O Herr! Du bist ein grausamer Gott - und uns hast du so schöne Zeit geschenkt. Haben sie alle für uns büßen müssen?«
Aus seiner Kehle löste sich ein seltsamer Laut; halb Keuchen, halb Aufschrei. Alle jene Toten, die Pilger ebenso wie die Ritter, hatten inbrünstig geglaubt, Gott sei mit ihnen, bis in alle Ewigkeit. Dieser Glaube hatte ihr Leben beherrscht; er besiegte jede Widrigkeit und ließ Wunder alltäglich erscheinen, und da sie alles diesem Glauben unterstellten, hielten sie ihre Wünsche und Vorstellungen für Gottes Willen: Deus lo volt! Und nun hatte ihr Glaube ihnen den Tod gebracht. Ob sie wirklich jetzt bei Gott im himmlischen Paradies waren?
Rutgar riss das Pferd herum und trabte zurück, ritt mit äußerster Vorsicht durch den kleinen Abschnitt des Grenzlandes zur Uferburg. Sicher würden Drakons Bewohner später die Toten ausplündern, nachdem die Seldschuken abgezogen waren; sie würden wenig finden außer schartigen Waffen und ein paar Münzen - vielleicht einige Pferde, die sich verlaufen hatten, zerbrochene Lanzen und Sättel. Es würde vor dem ersten Schneefall geschehen, und niemand würde die Mühe auf sich nehmen, eine so große Zahl Toter zu begraben.
Wieder hielt er auf dem felsigen Stück einer Wegkehre an, bog einen Ast zur Seite und blickte hinunter zur Burg und auf das nachmittägliche Meer. Die Boote der Fischer waren verschwunden. Auf dem Meer war kein Segel zu sehen.
Ich beschwöre euch, Faroard und ihr anderen, dachte er in steigender Verzweiflung, betrügt mich nicht, und lasst uns nicht im Stich. Holt Schiffe und Truppen des Basileus!
Aber zwischen den Mauerresten, auf dem schütteren, vergilbten Gras und hinter den schartigen Höhlen der Fenster und Durchgängen bewegten sich Gestalten zwischen den Säulenstümpfen. Rutgar zwang sich, das Bild aus dem Tal der Leichen zu vergessen, und blickte genauer hin. Es waren keine Seldschuken. Auch sah er ein paar Pferde und zwei Esel. Ein Mann auf schwarzem Pferd ritt langsam durch die Menge. Berenger!
»Also sind offensichtlich alle Überlebenden aus Civetot hierhergeflüchtet«, murmelte er. Der Rappe bewegte unruhig die Ohren. Rutgar hob die Augen zum Himmel. »Es war ein großes Sterben, Herr. Hast du das gewollt?«
Er lenkte das Tier in einem weiten Halbkreis durch die Wildnis, hielt sich im Schutz der Gewächse und versuchte zu erkennen, ob die siegreichen Truppen des Sultans auf dem Weg zur Ruinenburg waren oder sie schon zu belagern begannen.
In der Festung der Fischer schienen alle Anführer versammelt zu sein, die von den Türken verschont geblieben waren: Sechs Ritter hatten, schwer verwundet, den kurzen Kampf überlebt. Gottfried Burel, Walter von Breteuil, Wilhelm von Poissy, der von Schwarzenberg, Friedrich von Zimmern und Rudolf von Brandis - Feldscher und Heiler versorgten ihre Wunden. Alle anderen Grafen waren tot. Von den mehr als fünfhundert Berittenen hatten die meisten ihre Pferde eingebüßt. Unter moosüberwucherten Steinbögen und Dächern aus vermorschten Eichenbalken lagen Verwundete im Schatten, entkleidet, vom Blut gereinigt und von den Heilkundigen versorgt. Die Flüchtenden wagten nicht, Feuer anzuzünden, um ihr Versteck nicht zu verraten.
Einige Reiter versuchten noch immer, einen Fischer zu finden, der nach Konstantinopel segelte und um Hilfe rief. Aber alle Fischer dieses Küstenstreifens blieben unauffindbar, und es war auch keines der Frachtschiffe zu erspähen, die bisher Verpflegung nach Civetot gebracht hatten.
Nach den wenigen Befehlen der Ritter und mit dem Einfallsreichtum und der Kraft der Verzweifelten verwandelten die Pilger den innersten, höchstgelegenen Teil der Ruine in ein Bauwerk, das sich einige Zeit verteidigen ließ; denn auf der Landseite umgaben steile Hänge,
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