Jerusalem
weit jenseits von Nikaia.«
»Weit herumgekommen und wortgewandt«, antwortete einer der Ritter, dessen hellblaue Augen unter schweren Lidern hervorsahen; er redete bedächtig, mit tiefer Stimme aus einem grau-weiß gefleckten Bart hervor. »Ich bin Robert von der Normandie. Ich vertraue mich dir an. Was meint Ihr, Stephan?«
»Reiten wir nach Nikaia«, sagte sein Nachbar, der einige Jahre jünger schien, einen Kopf kleiner war und schneller, auch schärfer redete, »und nicht zu langsam, denn die vielen edlen Herren unserer Begleitung entraten oft der Tugend der Geduld.«
Das also ist Stephan von Blois, der Mann, der die Tochter Wilhelms des Eroberers geehelicht hatte, durchfuhr es Rutgar. Er verbeugte sich abermals.
»Voller Ungeduld warten die trefflichen und entschlossenen Belagerer von Nikaia auf Euch«, sagte er. »In zwei Tagen, wenn nicht über Gebühr gesäumt wird, können wir dort sein.«
»Dann los, im Namen Gottes!«, rief Herzog Robert.
Sie griffen in die Zügel und trabten an. Kurze Zeit später erreichten sie die Waräger, die ihnen bereitwillig und schweigend auswichen und einen Platz in der Gruppe frei machten.
Berenger, dem die Männer voller Achtung den Vorritt ließen, meinte grinsend zu Rutgar: »›... treffliche, entschlossene Belagerer ... wenn nicht über Gebühr gesäumt wird ...‹ Wenn dein Schwert so scharf ist wie deine französische Zunge, Ritterlein, ist mir um uns nicht bange.«
»Deus lo vult. Halten wir's weiterhin so«, antwortete Rutgar mit ebenso breitem Grinsen. »Du kämpfst, ich rede und schreibe. Dann kommen wir heil durch den Sommer.«
»Und ich, ich schweige besser!«, rief Chersala. Beim Klang ihrer Stimme zuckten einige Waräger zusammen und schienen erst jetzt zu erkennen, dass sie kein junger Knappe war.
So ritten Rutgar und seine Begleiter an der Spitze von fast zehntausend Fremden durch fremdes Land auf eine fremde Stadt zu, die angefüllt war mit goldener Beute und den unermesslichen Schätzen des Sultans.
Im Sattel des kraftvoll und willig trabenden Rappen, unter dem blauen Himmel und im strahlenden Sonnenschein des frühen Sommers, unter Wolken wie in der Provençe, war Jean-Rutgar sich völlig sicher: Er war auf der richtigen Straße. Er hatte sich für den rechten Weg entschieden. Er fühlte sich stark und geschützt an Berengers Seite. Er lächelte in Chersalas Augen. Wohin der Weg führte, wer konnte es wissen - bis Nikaia, Antiochia und bis vor die Tore Jerusalems?
Kapitel XIX
A.D. 1097, 3. T AG DES B RACHMONDS (J UNI ),
M ITTAG
S TRASSE VOR N IKAIA AM A SKANISCHEN S EE
»Auch wenn sie schon in der Feinde Land sind, habe ich sie gleichwohl nicht verworfen.«
(3. Mos 26,44)
Jean-Rutgar aus Les-Baux schirmte die Augen mit der Hand und hob den Blick zu den Mittagswolken. Entlang des Heereszuges, der sich aus dem Tal heraufquälte, jagten Schwalben und Felssegler mit gellenden Pfiffen. Hoch über ihnen zogen Geier ihre geduldigen Kreise und warteten auf den Abfall der Reiter und Fußwanderer.
An der Spitze von ungefähr eintausenddreihundert Reitern und achttausendfünfhundert Männern zu Fuß und auf Gespannen ritt Herzog Robert von der Normandie. Neben seinem braunen Streitross ging der Schimmel des Grafen Stephan von Blois und Chartres ruhig im Schritt. Stephan, Roberts Schwager, stolz, großsprecherisch und fromm, hatte sich seit dem frühmorgendlichen Aufbruch nur dreimal zu seinem Gefolge umgewandt oder mit dem Mönch Fulcher von Chartres geredet, seinem schreibkundigen Chronisten. Vor Robert ritt unbewegten Gesichts, stark und schweigsam, sein Bannerträger, der Ritter Pain Peverel.
Drei Pferdelängen hinter dem Schatten der Ritter fragte sich Jean-Rutgar im Sattel seines Rappen mit der Stirnblesse zum sechzigsten Mal, was er eigentlich zwischen den schwer gerüsteten Herren verloren hatte. Sein Helm war am Sattelhorn festgebunden, das Kettenhemd raschelte leise, und Rutgar hing mit offenen Augen seinen Gedanken nach. Am dritten Tag des Rittes nach Süden wusste der Zwanzigjährige, dass der normannische Herzog jedes Stück Land mit dem Hungerblick eines zukünftigen Fronherrn betrachtete. Seine Kraft und sein Jähzorn würden kein Blutbad scheuen; denn jedem bewaffneten Pilger waren alle Sünden vergeben, und jede Strafe war verbüßt. Schicksal? Bestimmung? Freier Wille? Vielleicht war es ein kleines Wunder: Er, Rutgar, ritt an der Spitze einer Unzahl ritterlicher Grafen, Fürsten, Würdenträger und Vasallen nach Süden, in ein
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