Jerusalem
nötig anzuschließen; sie wussten aber, dass sie sich spätestens im Lager vor Nikaia würden entscheiden müssen. Stürzten sich die Reiter des Sultans in die Schlacht, galt nur: kämpfen und töten, um nicht getötet zu werden.
Am frühen Abend, in wenigen Stunden, würde sich das Heer ins Tal Nikaias und zum See hinunterwälzen, wo das Lager von Manuel Butumites auf Berenger wartete. Auf Chersala und Rutgar wartete niemand.
Erst vor zwei Tagen hatten Chersala und Rutgar von Berenger erfahren, welch kluge und weit reichende Übereinkunft Kaiser Alexios erreicht hatte, durch Lehenseide besiegelt: Gott blieb der oberste Lehnsherr aller christlichen Heere. Wenn Basileus Alexios die Heerzüge selbst befehligte, würden sie willig unter ihm dienen und Leben und Ehre des Kaisers achten, der den Aposteln gleichgestellt und dessen Wille Gottes Wille war, obwohl das Heer ursprünglich unter dem Petrus-Banner des Papstes gegen die Ungläubigen hätte kämpfen sollen. Bis auf Tancred, der sich bis zum Schluss geweigert hatte, waren sie alle zu Söldnern des Basileus geworden. Die Grafschaften und alles Land, das sie eroberten, würden kaiserliches Lehen und somit Teil des oströmischen Reiches werden.
Tief in sich spürte Rutgar ein Unbehagen, das er mit Berenger teilte. Sie kannten den Hochmut, den Jähzorn und die Eifersucht der fränkischen Herren, und obwohl viele dieser Herzöge, Grafen und Fürsten zeitweilig in der Furcht des Herrn lebten, blieb ihr Tun roh und blutig, eigennützig und hochfahrend. Die Streitereien, die Urban II. beim Konzil von Clermont als überwundene Sündenfälle bezeichnet hatte, trugen die Fürsten weiterhin mit sich, und sie würden sich hüten, sie abzustreifen.
»Und was habe ich damit zu tun?«, fragte sich Rutgar und schrak aus seinem Sinnieren hoch, als er verstand, was Berenger zu Stephan sagte: »Der Sultan hat schon die Ritter besiegt, die mit Peter dem Einsiedel gezogen waren.« Berenger zauste die Mähne seines prustenden Rappen. »Die Späher des Basileus berichten, dass der Sultan und sein Riesenheer bei Melitene kämpfen, einer Stadt weit im Osten des Landes. Er führt Grenzkriege gegen die Danischmenden.«
»Also brauchen wir sein Sarazenenheer vor Nikaia nicht zu fürchten?«, sagte Stephan von Blois. Berenger warf ihm einen abschätzenden Blick zu und antwortete:
»Er wird in Eilmärschen gen Nikaia ziehen, seine Hauptstadt. Sie sind schnell, die Seldschuken. Jetzt weiß er, dass ein Frankenheer seine Stadt umstellt hat, in der die Sultanin und riesige Schätze warten.«
Fulcher von Chartres, dem Rutgar in den zwei vorangegangenen Nächten beim Schreiben seiner Aufzeichnungen zugesehen hatte, lenkte sein Pferd zur Seite und stieg ab, um sich zu erleichtern.
»Wir werden nicht nur Gräber für die Sarazenen ausheben müssen!«, rief er über die Schulter und zog sein Pferd am langen Zügel hinter sich her. »Seit fünfzehn Jahren besitzt der Sultan die Stadt. Seine Hauptstadt! Sein gewaltiger Reichtum! Meint Ihr gar, dass er dies alles freiwillig aufgibt?«
Das Gleiche fragten sich nicht nur Berenger und Rutgar.
Niemand antwortete dem Geistlichen. Nach einer Weile trabte er zurück an die Seite des Bannerträgers.
Chersala ritt an seine linke Seite heran und sagte leise, kaum lauter als der Hufschlag und das Knarren des Leders:
»Wo werden wir heute rasten, Rutgar? Bei diesem wüsten normannischen Herzog?«
»Nicht bei ihm«, gab Rutgar ebenso leise zurück. »Ich suche noch immer meinen Halbbruder, wie du weißt. Wenn ich Thybold zwischen den Zehntausenden finde, dann bei den Franzosen. Bei Raimund von Saint-Gilles. Er befehligt die Burgunder und die Provençalen.«
Sie nickte. »Also im Süden. Vor dem Yenisehir-Tor, wie die Reiter uns berichtet haben.«
»Oder im Lager von Butumites, zusammen mit Berenger«, sagte Rutgar. Er wollte nach Chersalas Hand greifen, wagte es aber nicht angesichts der Blicke derer, die hinter ihm ritten. »Wir müssen uns niemandem anschließen, nur den Spähern des Generals. Noch nicht.«
»Berenger wird für uns sorgen«, schloss sie. Rutgar nickte, stellte sich in den Steigbügeln auf und setzte sich ächzend zurecht. »Bei seinen Leuten bekommen wir auch Essen und Wein.«
Berenger hatte seinen Rappen gezügelt, hob den Arm und deutete nach vorn. Der schüttere Wald rechts und links der freigehauenen Straße und die sandige Fläche bildeten vor der Weite des Horizonts eine Mauer aus staubgeflecktem Dunkelgrün, von einer
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