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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Land hinein, das nicht nur ihm zunehmend fremder wurde. Er war Teil jenes gewaltigen Heerbanns, der sich nach dem Clermonter Konzil und dem glühenden Aufruf des Papstes gesammelt hatte.
    In der Menschenmenge des Heeres hatte er weder seinen Halbbruder Thybold noch andere Provençalen wiedergefunden. Mit jedem Tagesritt wuchs in Rutgars Herz die nagende Ungewissheit: Hatte er, als er den Schutz des Dorfes Drakon verließ, einen schrecklichen Fehler begangen? Civetot war, bis auf eine Handvoll Tage, ein volles Jahr her. Er sah ein, dass er die Heilige Stadt nur mit Berengers und Gottes Hilfe unversehrt und lebend erreichen konnte.
 
    Alle Wälder, Täler und Dörfer zwischen Civetot und Nikaia, durch die sich die alte romanische Handelsund Heerstraße schlängelte, über niedrige Pässe und entlang tiefer, schwarzer Schluchten, schienen bis auf wenige dürftige Zeichen ausgestorben zu sein. Die schüsselförmigen Münzen des Kaisers Alexios und die eindringlichen Warnungen, die Rutgar und Chersala, seine spracherfahrene Geliebte, den Dörflern vor dem Wintereinbruch überbracht hatten, zeigten ihre Wirkung. Nur wenige Einheimische boten an der Straße, die nicht mehr war als eine Schneise durch Niederwald, Proviant, Wein und Wasser an, das die Heerführer auch bezahlen ließen.
    Der Kaiser, Basileus Alexios Komnenos, Autokratōr en Christō, blickte noch immer verstört, aber von Tag zu Tag mit größerer Erleichterung, aus seinem Zeltlager zu Pelekanon den fünf Heeren und deren mehr als siebzig, achtzig Tausendschaften nach. Seit dem Christfest der Franken hatten sie wie Wolken gepanzerter Heuschrecken sein Land kahl gefressen und in ungeduldiger Gier selbst Konstantinopel nicht geschont. Aber sie waren die Feinde seines Feindes, des seldschukischen Sultans.
    In Rutgars Gedanken drangen undeutlich die Stimmen seines Freundes Berenger und der Gepanzerten.
    »Wird der Sultan noch ein weiteres Mal angreifen, vor Nikaia - was glaubt Ihr?«, fragte Herzog Robert. Er redete über die gepanzerte rechte Schulter hinweg mit dem weißhaarigen Warägergardisten. Heißer Westwind wehte über die offene Passstraße und trieb den Reitern und den Marschierenden den Schweiß aus der Haut.
    Raimund von Saint-Gilles hatte Arslans berittene Bogenschützen schon in der ersten Woche im Weidemond zurückgeschlagen. Und vierzehn Tage später hatte Gottfried, Bohemund und Robert von Flandern die Sarazenen in Fetzen gehauen. Auch der Bischof von Le Puy war dabei gewesen. Seit dem sechsten Tag im Weidemond lagerte Gottfried von Bouillon vor der Hauptstadt des Seldschuken-Sultans.
    »Wie Ihr, edle Herren, seit Langem wisst, würde der Weg nach Jerusalem Euch versperrt bleiben.« Berengers Antwort klang kühl und selbstbewusst, aber ehrerbietig. »Für alle Zeit, wenn Nikaia nicht in Eurer Hand ist. Der Sultan weiß dies so gut wie Ihr.«
    »Also wird er um Nikaia kämpfen!« Graf Stephan schien der bloße Gedanke daran zu erschrecken.
    »Gott ist mit uns!«, rief Herzog Robert und lachte. »Wir müssen siegen. Und wir werden siegen.«
    »Deus lo vult«, murmelte Rutgar und klopfte den Hals seines Rappen. Er würde nur kämpfen, wenn er sein Leben verteidigen musste. Der Sieg der hohen Herren war nicht sein Sieg.
    Die Straße, deren Ränder von der Drakon-Schlucht an mit den weißen Kreuzen und geschälten Ästen der Vorhut des ersten Heeres gesäumt waren, senkte sich zwischen einen Wald hoher Bäume. Die Anführer ritten in Schlangenlinien abwärts. Dumpfer Trommelschlag kam aus der Mitte des Zugs; aus einer Schlucht drang feuchtkalte Luft bis auf den Weg und kühlte Rutgars Schweiß. Er musste einsehen, dass er ein Teil des Heeres geworden war, eine Panzerheuschrecke unter Unzähligen, und er flüsterte: »Gott will es so. Berenger und ich wissen es anders.«
 
    Von den Menschenmassen der vier fränkischen Heere, die seit dem Beginn des Weidemonds vor Herzog Robert und Graf Stephan nach Süden gezogen waren, war das Land geprägt worden. Noch im Herbst ein schmaler, aber brauchbarer Wagenpfad, war die Straße zu einer breiten Spur freigehauen worden. Der Weg glich der Verwüstung, die Kukupetros' Zug zwischen Nikomedia und der verbrannten Festung Civetot zurückgelassen hatte: kahlgefressen, besudelt, von Resten der Feuerstellen gesprenkelt. Und auch die Lieder, die das Fußvolk anstimmte, erinnerten an die brünstigen Litaneien und Gebete der Pilger.
    Chersala und Rutgar waren bemüht, sich weder den Rittern noch dem Tross mehr als

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