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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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»Gewissenswurm« genannt hatte. Rutgar starrte kopfschüttelnd die Mauern an und fühlte sich als Teil des großen Menschenstrudels. Aber bisher hatten er und Chersala sich am Rand des Mahlstroms bewegt, geschützt und sicherer als andere. Er wich einer Gruppe vorbeihastender Knechte aus und lehnte sich an einen zerfetzten Baumstamm, in dessen Rindenresten abgebrochene Pfeile steckten. In langen Abständen fuhren tosende Flammen aus der Öffnung im Turmfundament durch den Rauch. Es war, als atmeten die Gewölbe lange Feuerzungen aus, die knallend vergingen.
    »Toulouse, Toulouse!«, hörte Rutgar. Am späten Morgen hatte es Regen gegeben, jetzt sengte die Nachmittagssonne senkrecht herunter und verstärkte die Hitze, die der Turm verströmte. An den Mauern verschwanden die letzten Spuren der Nässe. Unablässig fuhren Gespanne gefüllte und leere Wasserfässer zwischen dem Seeufer und den Lagern hin und her. Die Angriffsschreie der Truppen des Grafen von Saint-Gilles hatten wenig zu bedeuten; die Männer feuerten sich gegenseitig an. Sie sammelten sich und fieberten danach, in die Stadt einzudringen und die unerträgliche Erregung austoben zu können, aber ihre Fürsten schienen sich endgültig für das Warten auf den 19. Tag des Brachmonds entschieden zu haben.
    Rutgar hob ratlos die Schultern und sagte sich, dass er in Butumites' Lager am besten aufgehoben war. Als er seinen Platz verlassen wollte, sah er am Ende der Lagergasse, am Rand des Ölbaumwäldchens, eine Gestalt, die er augenblicklich erkannte. Peter der Eremit in der braunen Kutte ritt auf seinem Esel vorbei, den Arm segnend erhoben. Rutgar wollte ihn anrufen, begann zu laufen, aber der Eremit verschwand hinter den Spitzen von Zeltstangen, hochgereckten Kreuzen, Lanzenspitzen und einer Staubwolke, zwischen den entferntesten Zelten des Feldlagers.
    »Später«, murmelte Rutgar. »Deus lo vult, Kukupetros.«
    Er warf einen langen Blick auf die Wand des Turms. Aus Quaderritzen zogen Rauch- oder Dampffahnen in die Höhe und vermischten sich mit dem Qualm aus den unterhöhlten Fundamenten. Rutgar bahnte sich einen Weg durch Teile der Lager, vorbei an Trümmern und Arbeitern, zurück zum Kastanienwald im Mittelpunkt des Butumiteslagers.
 
    Nur noch die obersten Zinnen des Turms glänzten im Sonnenlicht; es schien, als wolle an diesem Tag das rote Abendglühen des Gestirns nicht weichen. Das Brausen und Knattern des unterirdischen Feuers war vor mehr als zwei Stunden vergangen. Nur noch dünner Rauch und Dampf kamen aus Rissen und Fugen und lösten sich auf. Im weiten Halbkreis um den Turm warteten Ritter und ihre Kriegsknechte in Rüstung und Waffen. Trompeten schmetterten Signale, dumpfer Trommelschlag rollte durch die Zeltreihen. Unablässig strömten einzelne Bewaffnete und kleine Gruppen herbei und sammelten sich um die Fahnen der Anführer. Sie bereiteten sich darauf vor, über einen zerklüfteten Berg heißer und zerbrochener Quadern, zwischen den bröckelnden Seiten der Mauern, in die Gassen der Stadt einzudringen. Die Sarazenen würden sich todesmutig wehren; jeder Belagerer trug seinen Schild zu allen seinen Waffen.
    Auf der Mauerkrone rechts und links des Turms bewegten sich Fackelflammen. Ihr Licht und die letzten Sonnenstrahlen funkelten auf Helmspitzen und Waffen. Eine beängstigende Ruhe und Starre hatten sich ausgebreitet. Darin waren nur die Laute der zwei- oder dreitausend Männer zu hören, deren Blicke über die Mauern glitten, die sich von Atemzug zu Atemzug dunkler färbten, bis sie, schwarz wie die Nacht, mit der Masse der Stadt und der Umgebung verschmolzen. Auf dem Turm waren weder Lichter noch Verteidiger zu sehen; seine Mauern gaben eine ungeheure Hitze ab, wie ein glühender Brotofen. Zwischen den wartenden Rittern wurden Holzstöße angezündet, und Knappen brachten frische Fackeln.
    In dem Augenblick, als der letzte Widerschein aus den Wolken verschwunden war, erscholl aus dem Inneren des Turms ein langgezogenes, knirschendes Seufzen wie ein unterdrücktes Todesröcheln. Es hatte noch nicht geendet, als eine Folge krachender Schläge ertönte, gleichzeitig mit peitschendem Knistern und Poltern, und im vagen Licht sahen die Ritter und alle anderen, wie sich fünfzehn, zwanzig Ellen über dem Boden die Vorderwand des Turms in zahllosen weißen Sprüngen, aus denen Staubfontänen geschleudert wurden, unendlich langsam nach vorn wölbte. Mit grauenvollem Knirschen zerbrachen Steine und Quadern, die hellen Spalten rissen auf, wurden

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