Jerusalem
Grandmesnil lockerte die Zügel, setzte die Sporen ein und rief:
»Eure Augen spielen Euch einen Streich, Le Maisné! Schattenspiele. Lasst uns reiten!«
Sie trabten an den Feuern vorbei, an Wällen und Palisaden entlang und an einem Gatter aus Fackeln und Öllichtern zurück zu den Zelten ihrer Lager. Murmeln, Klappern und der Klang fremder Worte, die den Weg aus der Stadt herausfanden, ließen erkennen, dass in Nikaia zu dieser Stunde niemand schlief.
General Manuel Butumites hatte zwanzig Dutzend seiner Männer befohlen, zwei Stunden vor Anbruch des Tages am Gonates-Turm zu sein und den Franken beim Sturm zu helfen; mit Leitern, Holzstegen, Schildwänden und tragbaren Dächern, auf die nasse, mit Essig getränkte Felle genagelt waren. Berenger, Rutgar und vier andere Späher, denen die Sprachen der Fremden ein wenig geläufig waren, führten die Männer an; sie hatten Berengers Befehlen zu gehorchen.
Die sechs Reiter, mit Schwert, Schild, Bogen und Pfeilen bewaffnet, führten die Pferde am Zügel, und Rutgar, der in Mondlicht und wabernden Schatten im Seenebel sich auf dem halbwegs vertrauten Weg durch die schwindende Nacht seine Gedanken machte, vermisste in Butumites' Befehl und der halbwegs nachlässigen Art der Männer die entschlossene Ernsthaftigkeit. In den Lagern begannen sich die Männer auf den Sturm vorzubereiten; überall hörte man fahles Wispern, gemurmelte Gebete und die unverständlichen Sätze der Mönche und Priester.
Als er sich an Berenger wandte, flüsterte er in dessen Ohr: »Mich dünkt, Freund Berenger, dass dein General mehr vom Verhandeln als vom Kampf hält.«
»Richtig dünkt es dich, mein Ritterlein«, flüsterte Berenger grinsend zurück. »Er will unserem Basileus eine unzerstörte Stadt übergeben. Heere kommen und gehen - Städte und Straßen bleiben bestehen. Wir warten ab, was geschieht.«
Die Sterne verlöschten lautlos nacheinander, der schwellende Mond hatte sich längst hinter die Hügel gesenkt. Im Schilf und im Sumpfgürtel des Sees lärmten die Frösche; frühe Vögel zwitscherten und zerteilten die Stille in der Stunde zwischen Nacht und dem Ende unruhiger Träume. Selbst Berenger schien einen Hauch von Furcht oder Betroffenheit zu spüren. Er legte, die Zügel in der anderen Hand, den Arm um Rutgars Schultern und sagte leise: »Die Trümmer des Turms, Rutgar, sie scheinen sich bewegt zu haben. Kannst du etwas erkennen?«
Die Reiter hatten die Stelle erreicht, an der Rutgar vor kurzer Zeit gewartet hatte. Berenger bedeutete seinen Männern, abzusitzen und zu warten. Bis auf wenige Lagerwachen und ein Dutzend heruntergebrannter, schwelender Fackeln waren sie allein.
»Noch nicht. Alles ist dunkel, schwarz, ohne Bild und Form«, antwortete Rutgar ebenso leise.
Sie starrten die Mauern und die ungefähr fünfzig Ellen breite Lücke zwischen deren Kanten an. Die Reiter hinter ihnen wurden unruhig. Die Laute, mit denen die Lager aus der morgendlichen Kühle erwachten, wurden gröber und erkennbarer. In der kleinen Ewigkeit, die es dauerte, bis sich der Himmel zu färben begann, erschien in undeutlichen Umrissen ein Bild, das keiner der Männer zu sehen erwartet hatte.
Der Anblick war wie ein Wunder. Am oberen Saum der dreieckig aufgehäuften Masse erschienen aus der Dunkelheit breite Reihen aus Quadern.
»Gott ist mit den Sarazenen«, murmelte ein Reiter.
Im dunklen Grau des Himmels waren alle Farben verschwunden; als aus der Richtung des Sonnenaufgangs ein Windhauch aufkam, wehte der Gestank aus den Abtrittgruben heran, zugleich mit Weckrufen, zaghaftem Glockengeläut und Geschrei. Kanten und Flächen der Quader wurden deutlicher, der weißliche Mörtel in den Fugen zeigte sich als Gitterwerk. Aus dem wirren Haufen der Steine war eine neue Mauer herausgewachsen. Sie spannte sich quer über die Lücke zwischen den Kanten der Stadtmauer und bestand aus Blöcken, die wenig zerbrochen schienen. Das Grau des Firmaments wurde heller, die Gegenstände ringsumher traten schärfer hervor, und wenige Atemzüge später erschienen fahle Farben.
Schwarze und graue Flächen, viereckig und rechteckig, gelbliche Gitter aus Füllsel, kleinere und größere Steine, die an den Bruchstellen eingesetzt worden waren, zeigten sich den Blicken. Anstelle des Turms war eine leicht vorspringende Mauer entstanden, weniger hoch als die Stadtmauer selbst, um vielleicht zehn Ellen niedriger.
»Ein Wunder!«, ächzte einer der Bewaffneten, die sich aus dem Lager genähert hatte. Er
Weitere Kostenlose Bücher