Jerusalem
starrte mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund die Mauer an.
Berenger sagte leise: »Kein Wunder, Franke. Ein Beweis für wütenden Fleiß und große Baukunst der Seldschuken. Allah war mit ihnen.«
An beiden Ecken des Turms waren schmale Teile des Mauerwerks stehengeblieben. Mit gewaltigen Anstrengungen hatten die Seldschuken im Schutz der Nacht einzelne Quader aus dem Haufen herausgewuchtet, zwanzig oder dreißig Fuß weit geschleppt und auf einem neuen Fundament aufgeschichtet. Dieses Fundament war nicht zu sehen, aber im zunehmenden Licht bemerkten Berenger und Rutgar zerbrochene Stangen und zerrissene, zusammengeknüllte schwarze Stoffbahnen. Berengers Lachen klang fast verständnisvoll.
»Sie waren leise und schnell, die Bauleute der Emire. Ihr Licht haben sie hinter schwarzen Tüchern vor euch versteckt.« Er blickte zu den Mauerkronen hinauf. Dort ringelten sich Rußfäden von gelöschten Fackeln in den graublauen Himmel. Aus den Lagergassen und zwischen den Zelten der Franzosen und des Bischofs ertönte das Klirren und Rasseln von Waffen. Pferde wieherten grell. »Ihr werdet es kaum schaffen, die Mauer umzuwerfen.«
Aus dem Lager strömten die ersten Belagerer. Botenreiter galoppierten heran, betrachteten einige Atemzüge lang entsetzt den Steinhaufen und die Mauer über dessen oberem Grat und rissen ihre Pferde herum. Berenger blickte in die Gesichter seiner Männer, grinste Rutgar an und winkte.
»Seit fünfzehn Jahren hält der Sultan die Stadt besetzt. Warten wir mit dem Erstürmen bis zum 19. Tag.«
Butumites' Männer hatten ihr Belagerungsgerät noch nicht ausgeladen. Ohne Eile kehrten sie um, und während Bewaffnete, Kriegsknechte und Mönche zwischen den Zelten hervorströmten und das Wunder der neuen Turmmauern bestaunten, folgte ihnen Rutgar. Er wusste nicht, was er von dieser seltsamen Wendung der Dinge denken sollte.
In der Ruhe des Nachmittags fand er zum dritten Mal Zeit, an dem Brief weiterzuschreiben, den Bruder Odo zu Cluny wahrscheinlich niemals lesen würde.
Jean-Rutgar aus Les-Baux schreibt seinen Freunden Odo und Rasso im Kloster Cluny, Grafschaft Mâcon an der Saône:
Alle Kriegsmaschinen, mit denen wir die Stadt sturmreif schießen wollten, Sturmböcke und Leitern, Türme und Steinschleudern, stehen bereit. Die Besatzung der Stadt hat sich mit allen Kräften gewehrt. Viele Seldschuken oder Sarazenen, wie man sie allgemein nennt, kamen im Kampf und im Widerstand um; ich weiß nur, dass die Zahl unserer eigenen Verletzten groß ist; auch liegen viele an unbekannten Krankheiten darnieder. General Tatikios mit seinen zwei Tausendschaften schlug sein befestigtes Lager vor dem zusammengebrochenen und wiederaufgebauten Gonates-Turm auf, der allen unseren Angriffen trotzte, und jeder Mann rüstete sich, um mit Gottes Hilfe an jenem Tag die Mauern und Tore Nikaias endgültig zu berennen, den die Fürsten und General Butumites festgesetzt hatten.
Die Hitze des sechsten Monats marterte das Land, die Stadt und alle Belagerer. Immer wieder fehlte es an Proviant, an Korn, Mehl, Salzfisch, Trockenfleisch oder Wein, bis ein Zug aus dem Norden Nachschub brachte, der meist für die vielen Tausende zu wenig war. Chersala und der junge Seilschläger Wigbert versorgten die Besatzungen von sieben Zelten mit Brotfladen und Sud, so gut sie es vermochten. Bisher hatten Tod, Verletzungen und Krankheiten das Lager des Generals verschont.
Rutgar schrieb nach einigem Nachdenken weiter:
Es ist nicht anders als auf dem Zug des Eremiten Peter. Die Fürsten und deren Gefolge sind ebenso gläubig wie kriegerisch. Zwar habe ich nur wenige arme, waffenlose Pilger gefunden, denn jeder im Heerbann dient seinem Grafen, seinem Herrn, und dieser hat für Priester, Mönche, Knechte und Handwerker zu sorgen. Man will die Zahl aller »Franken« auf achtzig-, gar hunderttausend und mehr festgelegt haben, aber ich glaube, es sind weniger. Aber auch ich konnte sie nicht zählen; wie denn auch! Den fünf Fürsten, die dem Ruf des Papstes gefolgt sind, und den Ehefrauen, Vertrauten und Verwandten, deren Zelte im Mittelpunkt des Lagers stehen, ergeht es gut. Sie verfügen über alles, was sie brauchen. Je weiter man aus der Mitte hinausgeht zu den Zelten und Unterständen am Rand, desto mehr erinnert es mich an die ärmlichen und von Schmutz starrenden Unterkünfte der darbenden Pilger des Kukupetros. Die Furcht des Herrn und der unbändige Drang, die müden Häupter in der Heiligen Stadt zur Ruhe zu
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