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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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wenige verloren ihr Leben.
    »Wie viele Tage bis Ikonion?«, lautete immer wieder die bange Frage. Niemand wusste es genau. Fünfzehn? Zwanzig? Ein Monat?
    Obwohl das Leid zunahm, je mehr man sich der ersehnten Stadt näherte, obwohl die letzten Zugtiere geschlachtet wurden, schleppte sich der Heerwurm weiter. Bohemunds Neffe Tancred und Balduin, Gottfrieds Bruder, führten in diesen schlimmen Tagen das Heer an, und die Nachrichten, die zu Tatikios und seinen Söldnern drangen, berichteten einerseits vom großen Verständnis der Ritter aus verschiedenen Ländern untereinander, zum anderen sprachen die Meldereiter von der Uneinigkeit zwischen den Anführern der Heere und deren Tross.
    Jean-Rutgar zählte ebenso die Tage wie die Kaplane und die Priester; wieder ritzte er Schnitte in einen Holzstab aus seiner Satteltasche. Die Tageshitze nahm während des beginnenden Erntemonds zu, die Wasserarmut blieb groß, aber dieses Mal waren auch die Vorräte größer. Dennoch war und blieb das weitere Eindringen in das fremde Land ein Martyrium. Bischof Adhemar, einer der Ältesten aller Heere, hielt sich besser im Sattel als viele jüngere Ritter. Kaplan Raimund von Aguilers bewunderte ihn und schrieb, er sei ein Beispiel für alle, die auf dem Weg in die Heilige Stadt waren. Fulcher von Chartres hielt auf seinem Pergament fest, dass ein Pfingstwunder zwischen den Angehörigen so vieler Länder stattgefunden hatte - sie schienen miteinander in einer Zunge zu reden.
    Das Heer, einmal weiter auseinandergezogen, dann wieder ein gedrungener Wurm aus Leibern und Eisen, mit weiten Lücken oder qualvoll dicht zusammengeschlossen, stinkend und staubig, fromme Lieder tönend und Gebete murmelnd, jämmerlich Gestorbene begrabend, kämpfte sich Meile um Meile weiter nach Südosten, der grünen, feuchten, kühlen Vision von Ikonion entgegen. Am 13. Tag des Erntemonds kamen die Kundschafter zur Vorhut zurückgeritten und schrien:
    »Eure Qual ist zu Ende! In zwölf Tagen suhlt ihr euch in den Bädern von Ikonion!«
    Zwölf Tage noch! Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer von der Spitze bis zum ausfransenden Ende des Zuges, der jetzt fast fünf Meilen lang war. Nicht nur Berenger war davon überzeugt, dass sie nach wie vor genau beobachtet und von der Garnison Ikonions erwartet wurden. Sultan Kilidsch Arslan hatte keine andere Wahl, als in dieser Stadt das Heer abermals in einen Kampf zu zwingen und das Vordringen der Franken aufzuhalten. Niemand hatte seit knapp einem Monat die Seldschuken gesehen; also erwarteten sie das Heer des Sultans in Ikonion.
    Am 23. Tag des Erntemonds, gegen Mittag, ritten Jean-Rutgar und Berenger zufällig nebeneinander, einen Pfeilschuss weit vor den übrigen Spähern am Ende des Heerwurms. Es schien einer der seltenen Augenblicke zu sein, in denen die Freunde frei miteinander reden konnten, ohne unwillkommene Zuhörer, so wie vor einer schieren Ewigkeit, als Berenger, der Schmied Gautmar, Chersala und Rutgar am Winterfeuer zusammen tiefroten Wein getrunken hatten.
    Rutgar war sich des seltenen Augenblicks wohl bewusst und begrübelte Berengers letzte Worte.
    »Was du sagst, trifft zu.« Er blickte zurück. Hinter ihnen war der Rest der Nachhut, erkennbar nur an der Wolke aus selbst aufgewirbeltem Staub, in einer Senke verschwunden. Der Gestank von Tausenden schwitzender Leiber hing krank machend in der unbewegten Luft. »Wenn es mir mit der Heimkehr wirklich ernst gewesen wäre, hätte ich schon im Frühling Drakon verlassen müssen. Mit Chersala. Ohne mich dem Heer anzuschließen.«
    »Du hast gekämpft wie ein Rasender«, sagte Berenger. »Schnell, klug und ohne Furcht. Wie ein erfahrener Krieger. Ich bin froh, dass du bei uns bist.«
    »Was hätte ich tun sollen!«, antwortete Rutgar. Er blickte an sich hinunter: Seine Kleider, selbst die sorgsam gepflegten Stiefel, waren ebenso zerfleddert wie seine Gedanken. »Du weißt, dass ich kein Feigling bin. Aber ich bin um jeden Schwerthieb froh, den ich nicht führen muss.«
    »Du bist mutiger, als du denkst.« Berenger kratzte sich im Bart. Die Pferde trotteten müde dahin, stolperten zwischen dem Geröll und ließen die Köpfe hängen. Das Leder der Zügel war hart und brüchig wie Holz geworden. »Und du musst auf Chersala achtgeben auf dem langen Marsch und sie schützen, auch mit dem Schwert.«
    »Sie hat es sich nicht ausreden lassen«, sagte Rutgar. »Ich hab sie nächtelang beschworen. Aber, du weißt ... sie ist stark und zäh.«
    Berenger

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