Jerusalem
Schritt von uns«, beharrte Chersala.
Berenger nickte und leckte den Rand des Bechers ab.
»Sechzig- oder siebzigtausend Pilger können sich nicht verstecken. Aber hundert Gruppen, jede mit hundert Reitern, finden in Schluchten, Tälern und hinter den Hügeln Unterschlupf. Es sind Nomaden! Vergesst nicht - sie sind uns vorausgeritten und haben geplündert, was sie finden konnten.«
Er drehte den Becher um; dann gähnte er und deutete auf Rutgar. »Du hast Wachdienst. In drei Stunden löse ich dich ab.«
»Dann werde ich ganz erfroren sein«, knurrte Rutgar und rückte näher zum Feuer.
Berenger grinste hinter seinem staubigen weißen Siebentagebart und antwortete grimmig:
»Besser erfroren als einen Pfeil im Hals, Ritterlein!«
»Wahr gesprochen«, murmelte Chersala. Sie blickte in die dicke Mondsichel von der Farbe schmutzigen Eises. Die Sterne und das gewaltige Band der Milchstraße schienen zur Erde fallen zu wollen; ein funkelnder Hort verborgenen Schreckens. Prophezeiten sie wirklich den nahenden Weltuntergang? Den Sturz aller Hoffärtigen in die ewige Verdammnis? Jeder Blick, der sich in dieser Höhle aus Finsternis und Drohung verlor, rief Furcht und Herzklopfen hervor und Gedanken an den Untergang der Welt und das Ende allen Fleisches. Sie schob die Hand zwischen die Hemdsäume, und ihre zitternden Finger suchten vergeblich an den Gliedern der goldenen Kette Halt.
Kapitel XXIII
A.D. 1097, 15. T AG IM H EUMOND (J ULI )
P ASSSTRASSE NACH I KONION
»O Gläubige, bekämpft die Ungläubigen in eurer Nachbarschaft; lasst sie eure ganze Strenge fühlen und wisst, dass Allah mit denen ist, die ihn fürchten.«
(Al-Qur'ān, 9. Sure [»Die Buße«], Vers 123)
Seit dem Morgengrauen schleppten sich die Vorhut, die Ritter, Tatikios mit seinen Söldnern und der Tross von fünf Heeresteilen weiter nach Südosten, am ausgedorrten Ostufer eines wasserlosen, namenlosen Flusses entlang. Schroffe, niedrige Berge voller Spalten und Klüfte starrten abwehrend wie eine unbezwingbare Mauer, mit der Ahnung von großen Seen dahinter, von denen rasch vergängliche Wolken aufstiegen. Das Land bot sich so leblos dar, als sei eine biblische Verwüstung darüber hinweggezogen. Jeder Schritt wurde, als die morgendliche Kälte verging, zur Qual. Die Hufeisen klirrten auf Kieseln, die Zehen stießen schmerzvoll ans Geröll. Von Stunde zu Stunde wuchs das Gewicht der Waffen und der Traglasten. Helme, Schilde und Schwertgriffe glühten wie im Schmiedefeuer.
Am fahlblauen Himmel, an dem sich lang gezogene Wolken auflösten, erschienen die Geier. Sie begleiteten den Pilgerzug, seit vor vielen Tagen der erste Kadaver liegen gelassen worden war. Zuerst sah Rutgar zwei schwarze Punkte, dann fünf, schließlich drehten mehr als ein Dutzend Aasvögel in der unbewegten Luft ihre weiten Kreise.
Einen halben Tag, bevor die eingeborenen Führer lachend und schreiend auf die Rauchsäulen und das niedrige Grün in der steinigen Landschaft deuteten, saß nicht einer der Reiter im Sattel. Alle Ritter gingen zu Fuß und zogen die erschöpften Pferde an den Zügeln mit. Am frühen Nachmittag pflanzte sich ein heiserer Schrei durch die Reihen bis zur Nachhut fort:
»Die Stadt! Das kleine Antiocheia in Pisidien! Wasser und Essen! Gott hat uns gerettet!«
Die Pilger schleppten sich in ein Tal hinunter. Zwischen dunkelgrünen Bäumen mit glänzenden Blättern leuchteten weiße Säulen. Sie wirkten, als gehörten sie zu einem zerfallenen Tempel oder zu einer Kirche, die gerade errichtet wurde. Ein kleiner See schimmerte durch die Baumstämme. Eine Schar Reiter, deren Tiere mit prallen, tropfenden Ziegenbälgen beladen waren, preschte der Vorhut entgegen.
»Seht ihr die Kreuze auf den Türmen? Es sind Christen wie wir!«
Am frühen Abend lagerten die Pilger in einem Ring um die Stadt, zwischen den Resten eines uralten Tores, eines Tempels und eines weiten Forums. Vor tausend Jahren, erzählten die Stadtbewohner, hatte der Apostel Paulus hier gepredigt. Der Aufenthalt in Antiocheia, das der Sultan in seiner Wut rätselhafterweise verschont hatte, rettete Tausenden das Leben. Wasser! Schatten unter obsttragenden Bäumen. Frisches Gras für die Tiere! Syrische und armenische Christen halfen den Pilgern, wo sie nur konnten. Der Graf von Toulouse genas nach zwei Tagen tiefen Schlafes so weit, dass er sich wieder im Sattel halten konnte.
Gottfried von Bouillon, gefolgt von Bruder Balduin und dessen Familie, Graf Reinhold von Toul, Warner von
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