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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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erschöpfender Suche. Der Eremit Kukupetros, dessen Esel längst verendet war, war barfuß und entrückten Blicks, scheinbar von unsichtbarem Manna ernährt, inmitten der Pilger wie auf einer silbernen Straße geschritten, die in die Goldene Stadt führte. Für Rutgar war Peter von Amiens inzwischen wie eine Gestalt aus ferner Vergangenheit; einst hatte er ihn in einer anderen Welt begleitet und geschützt. Gott und alle Heiligen hatten auf den Elendszug herniedergeblickt, auf die Waffen der Ritter, die niemand anfassen konnte, ohne sich die Finger zu versengen, auf jene riesenhafte leere Fläche, auf der sich unter einer lang gezogenen Staubwolke die Prozession der verdurstenden Gläubigen vorwärtstastete.
    Gläubige? Rutgar zählte sich längst nicht mehr dazu. Der einzige Glaube, zu dem er sich fähig fühlte, war der an sich selbst und daran, dass er überleben wollte. Überleben musste, allein wegen Chersala und der Rückkehr nach Les-Baux. Sein Halbbruder Thybold, nach dem zu suchen von einer fixen Idee inzwischen zu einer vagen Vorstellung geworden war, nahm an diesem Zug nicht teil; inzwischen hatte Rutgar in jedes einzelne Gesicht geblickt und vergeblich nach Thybolds Falkennase und den strahlend blauen Augen geforscht.
    Sein Blick kehrte aus der Ferne jener Erinnerungsbilder zurück und fand Halt in Chersalas Gesicht.
    »Eines Tages«, murmelte er, »ist das alles vorbei. Wenn wir es überleben, werde ich wieder glauben können, dass uns der Herr geholfen hat.«
    »Deus lo vult!«, antwortete sie nicht ohne Spott. »Sagen sie alle, immer wieder. O welche Wirrniss!«
    Rutgar beugte sich vor, strich Chersalas gewaschenes, geöltes und gebürstetes Haar über den Brauen nach rechts und links und flüsterte: »Wir sind allein, Liebste. Auf zwiefache Weise. Einerseits: Endlich sieht und hört uns niemand.«
    Sie hatten, das Lager verlassend, einen Ziegenpfad am Rand des Bächleins gefunden und lagerten zwischen den knorrigen Wurzeln eines Ölbaums, vielleicht zweitausend Schritte vom letzten Zelt entfernt, auf halber Höhe über den Obstbäumen und den Rücken der friedlich weidenden Tiere. Grillen und Zikaden lärmten, zwischen den silbrigen Unterseiten der Olivenblätter sickerten flackernde Sonnenstrahlen und Mittagswärme zu Boden und trafen ihre nackten Körper. Hummeln, Käfer oder gelb-schwarz aufblitzende Wespen summten durch die Stille.
    Rutgars Finger strichen über Chersalas Brust; er fuhr zögernd und - weil er sich unerwartet an solch summende Mittage in Ragenardas Armen entsann - stockend fort: »Andererseits: In einem Land, das wir nicht kennen, sind wir nicht weniger allein. Nur Berenger reitet mit uns. Und was meinen Bruder Thybold betrifft: Dass er nicht zwischen den Tausenden reitet, das weiß ich längst. Sag, was sollen wir tun?«
    Chersala und er hatten sich von dem Durst- und Staubmarsch und allen Mühseligkeiten wie junge, wilde Tiere binnen erstaunlich kurzer Zeit erholt. Wasser, Schatten, Ruhe, reichliches Essen, viel Schlaf, die Sicherheit im bewachten Lager, das Bewusstsein, stärker gewesen zu sein als alle die Todkranken und Toten, vernarbende Wunden, vergessener Schmerz und der fehlende Zwang zur Wachsamkeit gegenüber Seldschukenreitern - es war ihnen, als lägen sie in einem weichen Nest, von Adlern, Drachen, Gott dem Herrn und dem Schicksal beschützt. Chersalas Finger nestelten die Kette vom Hals und ließen sie in ihrem Schoß ringeln.
    »Ich weiß es nicht, Liebster«, antwortete sie. Ihre Finger umfassten seine Arme und tasteten sich zu seinen Schultern und zum Nacken. »Als wir aus Drakon fortgeritten sind, hab ich nicht geahnt, wie schwer es wird.«
    Ihre goldfarbenen Augen flirrten im zitternden Mittagslicht. Er betrachtete ihr Gesicht, ihren hingegossenen Körper, ihre herausfordernde Wehrlosigkeit und ihr räkelndes Begehren. Auch heute, wieder einmal, fühlte er sich ihr hilflos ausgeliefert und genoss jeden Augenblick davon. Sie liebte ihn, er liebte sie; so hatten es das Schicksal und vielleicht auch der Herr beschlossen, dessen Wirken sich nicht zeigte. Es gab nichts anderes. So war es. Amen. Er versank in einem lustvoll nassen und fordernden Kuss, fühlte ihre Hand an seinem Glied, streifte die Kette zur Seite und teilte ihre Schenkel. Und während ihre Körper ruckend und gleitend miteinander verschmolzen, leicht und schön, erschöpfend und erlösend, glaubte er eine schwellende Musik zu hören wie von vielen Trommeln, Trompeten, Fiedeln und wohlig schnarrenden

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