Jerusalem
euren Besitz! Mit glühendem Eifer haben es vor euch schon so viele gewagt! In allen Ländern, selbst in England, Schottland und allen, die unseren reinen Glauben teilen, nehmen die Menschen das Kreuz - sie alle ziehen nach Osten, wandern, beten und singen. Große Heere erwarten uns in Konstantinopel.« Er breitete abermals die Arme aus, faltete die Hände und sank, zur Kirche gewandt, auf die Knie. Alle Priester in seinem Gefolge taten es ihm nach. »Lasset uns beten. Der Herr wird unser Flehen erhören. Deus lo vult!«
Zur Sext, der zwölften Stunde, kämpfte der irdische Gestank vom Markt gegen den göttlichen Weihrauch und Kerzenduft aus der Kirche. Herr Neidhart, Bibliothekar und Vorsteher des Skriptoriums der Augustinerchorherren und rechte Hand des Erzbischofs Herrmann III., stand unsichtbar im Halbdunkel des halb geöffneten Portals, rieb den messerscharfen Rücken seiner Nase und betrachtete den verfilzten grauen Haarkranz des Betenden im Sonnenlicht.
»Wenn Gott zulässt, dass der große Ruf des Papstes überall befolgt wird, wird sich manches Land leeren, Gevatter Rutgar.«
Jean-Rutgar, der sich bereits seit vier Tagen in der Domstadt aufhielt, beobachtete ebenso wie Neidhart die stoßende, schiebende Menschenmenge. Er antwortete ausweichend:
»Peter von Amiens mitsamt seinen wortmächtigen Brüdern wird nicht auf das Heer warten. Papst Urban hat ihm keinen Auftrag erteilt.«
Von Clermont aus hatte er den Papst und dessen Tross zu einigen benediktinischen Klöstern begleitet, daraufhin nach Cluny, dann um Weihnachten nach Limoges, von dort aus nach Poitiers und bis Tours. Dort, während eines weiteren Konzils, rief Urban II. abermals zur bewaffneten Pilgerfahrt auf und wandte sich nach Aquitanien. Jean-Rutgar hatte den Trupp verlassen und sich westwärts durchgeschlagen. In Lothringen war er auf die unübersehbare Spur des Eremiten gestoßen und hatte von Peters »Jüngern« gehört, die ebenfalls Gläubige um sich scharten. »Auch die anderen drei, Volkmar, Gottschalk und Frater Orel, haben schwerlich den Segen des Pontifex.«
Neidhart, in dunkler Kutte und noch umfangen von der düsteren Stimmung des Karfreitags, hatte auch unabhängig von dem Bericht, den Rutgar ihm gleich nach seinem Eintreffen gegeben hatte, bereits vom Zug der Fünfzehntausend gehört, die im Anmarsch auf Köln waren. Seit dem Clermonter Konzil hatten aufgeregte Amtsbrüder ihm vom Zulauf der Verzweifelten zum Pilgerheer des Eremiten berichtet. Jetzt sah er das Elend mit eigenen Augen. Seine Blicke, abwägend und finster, trotz unzähliger Fältchen in den Augenwinkeln, hefteten sich auf Walter Sans-Avoir und auf Frater Orel und Gottschalk, die auf Peter zustapften.
»Gelichter«, murmelte Neidhart in den Stoff des Kuttenärmels. »Gesindel mit vielen Spottnamen. Die Heuschreckenschwärme der Bibel! Jetzt haben wir sie auf dem Buckel und dem Geldbeutel.«
»Zu Cluny war der Haufe kleiner und blieb nur einen Tag«, antwortete Jean-Rutgar. Neidhart nickte und richtete schweigend den Blick zum Himmel. Was wusste Rutgar über Walter von Sans-Avoir, der sein Erbe verschleudert und jahrelang als Söldner gekämpft hatte? Er galt als tapferer, indes glückloser Krieger, als geschickter Unterhändler und gehorsamster Gefolgsmann des Predigers. Auf seinem kurzen Streifzug hatte er beträchtlichen Reichtum erplündert, und in seinem Gefolge tummelten sich junge Dirnen, Zwerge und Weinschenke, die etliche Fässer seines bevorzugten Weines bewachten.
»Die Herren Ritter in Peters Begleitung«, sagte Neidhart mit sichtlicher Missbilligung, »kennen wir. Die meisten sind unwürdige, rohe Gesellen, arm und hoch verschuldet. Du willst dich wirklich ihrer Gesellschaft anschließen?«
»Nicht ihnen«, antwortete Rutgar ruhig; seine Meinung über Sans-Avoir und einige andere Ritter stand längst fest. Auch die über Peter von Amiens, der ihn ein wenig an Vater Philbert erinnerte. Vielleicht lag es daran, dass beide im Gottesglauben unerschütterlich waren wie Felsen. Aber aus Philbert, dem weißbärtigen Greis in der Provençe, der reinlich gewesen war und leise und zurückhaltend geredet hatte, hatte verständnisvolle Güte gesprochen; Peter, schmutzig und verwahrlost, war ein schriller Eiferer im Herrn. »Dem frommen Eremiten, ja. Mit ihm, an seiner Seite, komme ich in die Länder von Milch und Honig.« Und vielleicht, dachte Rutgar, erfüllt sich mein Traum von der kleinen Burg.
»Gott segne deine Einfalt, Rutgar.«
»Meine Einfalt
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