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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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die Männer verfluchen. Noch immer herrschte Ragenarda über seine Erinnerungen.
    Als Madolen ihn um Mitternacht weckte, waren die Kerzen heruntergebrannt. Aber aus dem Krug floss noch Wein für zwei volle Becher. Rutgar hatte in der feuchten Wärme von der weißen Burg geträumt, die er bauen würde. Madolen schmiegte sich an ihn und reizte ihn mit feuchten Lippen und gierigen Fingern, bis er sie ein zweites Mal nahm. Eine Stunde vor Sonnenaufgang zog er sich an und verließ sie. Sie schlief, ihr Gesicht zeigte ein zufriedenes Lächeln.
    Als er zu den Ställen und zu seinem Gespann ging, erwachte das Dörfchen. Er holte sich ein Stück frisches Brot, trank einen Becher euterwarme Milch und dachte, als er das Gespann zum Steinbruch lenkte und die Rauchsäulen der frühen Feuer zu zählen versuchte, an Abschied, fremde Orte und andere Menschen. An Clunys Kirche und dem Kloster würden die Steinmetze noch viele Jahre bauen.
    »Ich will es.« Er wiederholte, was ihn Laienbruder Odo gelehrt hatte: »Weil ich kann, was ich muss.«
    Das Osterfest, sagte er sich, würde er in einer anderen Stadt feiern.

Kapitel III
 
A.D. 1096, 17. T AG DES O STERMONDS (A PRIL ), K ARSAMSTAG
K ÖLN AM R HEIN , S TADTMITTE
 
»Kommt mit mir; ich führe euch ins Gelobte Land.«
(Peter der Einsiedel)
 
    Zum dritten Mal an diesem Tag rauschte kalter Regen auf Köln herunter. Das lärmende Gedränge nasser, schmutziger Menschen, die am Ostersonnabend den Platz vor der Kirche St. Maria ad Gradus bevölkerten, wich vor dem bärtigen Mann auf dem Esel auseinander und bildete zwischen Schragen, Fässern, Zubern, Körben, Karren und Käfigen des Ostermarkts eine Gasse, die sich verbreiterte, als das Volk die gewappneten Reiter sah, die dem Hässlichen mit dem härenen Mönchsgewand folgten. Der Regenguss hörte auf; von Dächern und aus Wasserspeiern plätscherte bräunliches Wasser. Wieder blieb Peters Esel, aus dessen Fell es schmutzig tropfte, mitten im Unrat des Marktes stehen. Eine Frau mit offenem Mieder fütterte ihn mit einem Rübenschnitz.
    Schon bei seinem Einzug in die Stadt hatten arme Bauern und Bürger den Esel gestreichelt und waren, als sie ihn, den kleinen, untersetzten Reiter an der Spitze des Heeres Christi, erkannten, in begeisterte Rufe ausgebrochen. Jubel und Willkommensgeschrei waren ihm, wie sein verinnerlichter Gesichtsausdruck zeigte, ebenso gleichgültig wie der Gestank des Eselsschweißes, des Lauchs und der Mauern, die ätzende Salze ausdünsteten. Peter hustete, entließ einen gewaltigen Rülpser und strich das tropfende Wasser aus dem langen grauen Bart.
    Peter besaß weder die Weihen eines Priesters, noch hatte er je länger als ein halbes Jahr im Kloster Orval ausgeharrt, aber er fühlte wie ein Bischof und ihm waren die hallende Stimme, die treffsichere Überredungskraft und die unbeirrbare Kraft des Glaubens eines eifernden Kardinals zu eigen. Er hieb seine Fersen dem Esel in die mageren Flanken und trieb das Tier weiter, durch die lebendige Mauer der Menschen, die Peter angafften, ihm Unverständliches zuriefen, lachten und tanzten; tausend Augen starrten ihn an.
    Zwischen den Rädern der Karren kläfften räudige Köter, ein neuer scharfer Regenguss fegte über den Kirchplatz und scheuchte einen Taubenschwarm auf die Simse der Kirchtürme und unter die Dächer der Bürgerhäuser. Unter einem Vordach leierte Musik der Vaganten; ein Zink quäkte, ein Krummhorn unkte lang gezogene Laute, die Trommeln klapperten. Peter senkte demütig den Blick. Er hob das Kreuz aus hellem Holz; ein zweites hing, vom Anfassen schmutzig braun, an seinem Hals. In seinem dunklen Gesicht, wusste er, lasen die Menschen die göttliche Wahrheit: Ich führe euch auf den richtigen Weg!
    Lautlos formten seine inbrünstigen Gedanken Worte aus der unendlichen Tiefe seines Glaubens: Dieses Osterfest ist der Beginn der Pilgerfahrt! Denn schon seit der zweiten Woche im Lenzmond predige ich Unzähligen die Botschaft Papst Urbans des Zweiten.
    Ein paar Schritte hinter ihm ritt Weißbart Walter von Possy, der etliche Tausende anführte: entwurzelte Bauern, verarmte Ritter, ehemalige Leibeigene, Dirnen und Hübschlerinnen, Söhne in dritter und vierter Erbfolge, ausgestoßene Mönche und seltsames Gesindel, irrlichternder Pöbel und ehrliche, gottesfürchtige Pilger. Manche nannten den älteren Ritter auch »Walter von Poix« oder »de Pexejo«; sein Neffe Walter Sans-Avoir, der »Habenichts« oder »Sinehabere«, auch »Senzavehor«, befehligte

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