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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Karren: Arme und Bresthafte, Tagelöhner und Abenteurer, Mörder, entflohene Leibeigene, Zuchtlose und Diebe, gläubige Verbrecher, Schänder und Gottlose, die da sicher glaubten, an jedem anderen Ort erginge es ihnen besser als diesseits und jenseits der Stadtmauern. Vielleicht war es ja auch eine Reinigung, ein Gedanke, den man als Christ nicht hegen durfte, der seine Seele aber mit einer geradezu ketzerischen Befriedigung erfüllte.
    Neidhart bekreuzigte sich, stand auf und führte Rutgar zum Seiteneingang.
    »Du kannst schreiben, hast du gesagt?«
    »So ist es«, gab Rutgar mit einigem Stolz zu. »Aber ich habe nichts, um es dir zu zeigen.«
    »Dann komm mit mir ins Scriptorium. Gott hat mich gerade ein wenig erleuchtet. Erzbischof Herrmann der Reiche von Hochstaden ist geradezu gierig nach politischen Neuigkeiten, die über bloße Werbeblätter hinausgehen.«
    Jene »Excitatoria« hatte Rutgar bei Neidhart gesehen; die Schriften, voll von Bildern und einfachen Zeichnungen für die Unzähligen des einfachen Volks, den Ungebildeten und Blöden, die weder lesen noch schreiben konnten, jene Blätter, die Reliquien des Ostens schilderten und die Frauen der fernen Länder, die sich lüstern den Pilgern hingaben; eines der Blätter voller bunter Bilder hatte man an die Pforte des Nebeneingangs der Kirche geheftet. Er hörte Neidharts Knurren.
    »O Herr, nicht nur geschoren sind deine Schafe, krank und überaus zahlreich, sondern ihre Herden sind auch voller Sündenböcke, die besser in die Wüste getrieben werden sollten.«
 
    Sieben Tage und Nächte lang glich Köln, im Sonnenschein und im Regen des Ostermonds, einem riesigen Heerlager, das in langen Albträumen erdacht und zur schier unvorstellbaren Wirklichkeit geworden war. Hungrige und Betrunkene schliefen in jedem dunklen Winkel. Außerhalb der Mauern loderten einige Tausend Feuer, umgeben von Stangen und Seilen, über die man Leinwand und zusammengenähtes Leder gespannt hatte. Gegröle, Flüche und Gelächter ertönten ununterbrochen aus den Hurenhäusern. Die Kirchen waren voll wie niemals je zuvor; im Gedränge kamen manche zu Tode, die in der nassen Hitze und im Weihrauchdampf das Bewusstsein verloren hatten. Bald gab es in den Schenken nichts mehr zu essen außer heißem Brot, das man den Bäckern aus den Öfen riss.
    Von den Schweinen, die nachts die Gassen säuberten, lebten am dritten Tag nur noch wenige; man briet sie auf Rosten und Spießen. Wenig Silber, kaum Gold, dafür unzähliges Kupfer wurde gewechselt. Die Betrunkenen fielen über die Frauen her, die Peters inbrünstiger Heerhaufen mit sich schleppte. Wein und Bier flossen in Strömen. Selbst Händler von weit her verkauften die letzten Fuder ihres Weins, der wenig besser als Essig schmeckte, Zunge, Gaumen und Zähne marterte und den Urin der Pilger krokusgelb färbte, der Hausmauern besudelte, durch die Gassen strömte und draußen vor der Stadt das frische Gras gilben ließ.
    Scheinbar ohne Anlass läuteten die Glocken. In Mietställen, auf Koppeln und umliegenden Bauernhöfen schufteten Knechte und Hufschmiede, striegelten Pferde, Maulesel und Esel und beschlugen Hufe. Gewandschneider schnitten Leder und unglaubliche Mengen roter Stoffstreifen, die als Kreuze an Mäntel, Hemden, Kursite oder auf Satteldecken genäht wurden. Kinder wurden gezeugt und geboren, sie starben oder schrien ihren Willen hinaus, in dieser Welt zu leben, zusammen mit jenen Kindern jeden Alters, die ihren Eltern nach Jerusalem folgten.
    Die Stadtoberen und die Bürgerschaft ließen aus allen Richtungen Handwerker, Weinfässer, Salzfisch und lebendes Geflügel, Brot, Käse, Holzkohle und Bier kommen - über Köln erhob sich eine helle Wolke aus Rauch und Gestank: Schweiß, Horn, Dampf und Schmutz, und der süßliche Ruch faulender Ratten und anderer Kadaver machte Katzen, Hunde und Aasvögel vor Gier und Hunger närrisch.
    Jean-Rutgar wagte sich in das Gewimmel der engen Gassen, sagte wenig und hörte und sah viel und machte sich seine Gedanken. Peter, der Eremit aus dem feuchten Wald, lodernd vor göttlicher Eingebung, der nach Fisch und saurem Wein stank und dessen Esel von der Ausdauer des Gottseibeiuns erfüllt zu sein schien, zogen rastlos von einer Kirche zu einem Teil des Lagers, vom Kloster zum Ratshaus, von Tor zu Tor, hinunter zur Altstadt, zur fliegenden Brücke und zu den Schiffen im Hafen. Er betete, riet, trank sauren Wein, rülpste gurgelnd, spuckte Fischgräten auf seine Zehen, befahl und herrschte durch

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