Jerusalem
Bischof Adhemar.«
»Das tun wir seit drei Wochen«, meinte Chersala und lachte spöttisch. »Freiwillig oder gezwungen - das bringt weder Braten noch Wein.«
»Ein paar Krüge habe ich noch«, knurrte Berenger. »Nicht vom Besten, aber noch nicht sauer geworden.«
Rutgar dachte an die Zeilen, die er zuletzt geschrieben hatte. Er wünschte sich, über die Kraft des Wortes zu verfügen, so wie Bischof Adhemar oder General Tatikios, um zuerst sich selbst und später dem Leser seiner Niederschrift die Wahrheit und Wirklichkeit schildern zu können. Er vermochte es nicht, denn sonst hätte er die bedrückte Stimmung schildern können, die erwartungsschwangere Stille vor einem Wunder, des Weltuntergangs oder einer göttlichen Erscheinung. Diese unsichtbare Last lag über der Stadt, den Lagern und dem Land.
»Hast du neue Befehle mitgebracht, Berenger?«, sagte Chersala und schöpfte Wasser in ihren Becher. Der Waräger zuckte mit den Schultern.
»Wahrscheinlich bleibt die Hälfte von uns im Lager. Die andere reitet ins Gebirge. Tatikios glaubt, dass uns die Rubenier-Fürsten Essen verkaufen.«
»Die Armenier verkaufen eine Eselsladung Proviant für acht Hyperper.« Chersala spülte die Schalen und die Becher und stülpte sie über Holzfinger an der Zeltstange. »Die Ritter, die viel Beute gemacht haben, können's kaufen.«
Berenger und Rutgar bückten sich unter dem Zeltvordach und blieben auf dem Rost aus Knüppelholz stehen. Noch immer lag diese bedrückende Stille über dem Land. Kein Pferd wieherte, niemand fluchte, kein Vogel schrie. Eine Gruppe von zwei Dutzend bewaffneten Kundschaftern stand vor dem großen Zelt mit fünf Spitzen im Mittelpunkt des Lagers.
Rutgar winkte Chersala heran, legte ihr den Arm um die Schultern und sagte: »Die ersten Pilger flüchten, und es werden immer mehr. Bevor wir hier vor Hunger umkommen, reiten wir nach Sankt Simeon. Ich versprech's dir.«
Berenger grinste und deutete nach Westen. »Dieser Hafen und die Stadt - nach Sankt Simeon dem Jüngeren benannt - haben eine seltsame Geschichte. Der Leib, der Sitz der Sünde, wie eure Bischöfe predigen, dieses Mönchs war vielleicht sehr sündig, aber er widerstand dreißig Jahre, die er bei Sturm, Hitze und Regen auf einer Säule zubrachte, von dort aus predigte und schlief, seine Notdurft verrichtete und im einunddreißigsten Jahr tot hinunterfiel. Das, meine Freunde, ist keine Legende.«
Chersala blickte schweigend in sein Gesicht und suchte dann Rutgars Blick. Es war ein kleines Wunder, dass Adhemars Botschaften den Patriarchen der Insel Zypern erreicht hatten. Simeon von Jerusalem, der jetzt auf der Insel lebte, hatte Lebensmittel geschickt, die mühsam den Weg hierhergefunden hatten, aber die Not nicht zu lindern vermochten. Ein Schiff nach Zypern, ein anderes Schiff nach Westen ... davon träumten Chersala und Rutgar, wenn sie nachts von ihren knurrenden Mägen geweckt wurden.
Sie gingen durch die Lagergasse zu Tatikios' Zelt. Plötzlich, nach drei Dutzend Schritten, riss sie eine unsichtbare Kraft von den Beinen, ließ sie taumeln und schleuderte sie zu Boden. Die Zelte schwankten, Zeltstangen splitterten, Spannseile rissen. Die Geräusche gingen in einem tiefen Grollen und Poltern unter, das aus dem Boden kam, aus der Erde und, wie es schien, von den Bergen und vom Fluss.
Durch das Lager, in dem sämtliche Bewohner taumelten und stürzten, erscholl ein einziger, lang gezogener Schrei aus Tausenden Kehlen. Die Erde bebte, einen furchtbaren Atemzug lang, einen zweiten, dritten und vierten. Unablässig wankten die Zelte; einige brachen in den Staubwolken zusammen, die überall hochbrodelten. Die Türme und Dächer der Stadt und selbst die Berge hinter der Festung schienen zu erzittern.
Auch Chersala schrie vor Angst. Rutgar kam schwankend auf die Füße und glaubte zu sehen, dass auch die Mauern und die Wehrtürme sich bewegten wie Bäume im Sturm. Fahnenmasten fielen um, Brände brachen aus, und das Schreien ging weiter. Rutgar blieb breitbeinig stehen, obwohl er torkelte, und zog Chersala hoch. Berenger hielt sich an einem wippenden Seil fest und blickte, als suche er den Schuldigen für das Beben der Welt.
»Die Strafe Gottes!«, heulte ein Mann zwischen den flatternden Zeltwänden. Das Dröhnen aus der Tiefe hielt an, ein harter Stoß ging durch den Boden, dann verhallte das dumpfe Lärmen, und für einige Herzschläge trat eine unirdische Ruhe ein.
In diesem Augenblick begannen sämtliche Tiere zu schreien.
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