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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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deutete über die Schulter und wandte sich um. »In einer Stunde bin ich zurück. Genießt euer Wiedersehen, Ritterlein.«
    Er ritt einige Male um das Lager, sprach seinen Männern Mut zu und schaffte ein Fuder Heu und eine halbe Traglast Gras und Getreide für die Pferde herbei; abends kehrte er mit zwei vollen Weinkrügen zum Zelt zurück und setzte sich ans Feuer.
    Der Tag war wolkenlos geblieben. Im Lager, in allen Zelten und hinter den Palisaden herrschte die gewohnte, angespannte Ruhe. Der Schrecken des Bebens saß tief in den Herzen der Belagerer. Fackelflammen wanderten lautlos auf dem Wall hin und her. Die ungewöhnliche Hitze hatte jäh abgenommen, nachdem die Sonne untergegangen war. Am mondlosen Himmel erschienen die Sterne.
    Chersala lauschte den Brüdern, die einander ihre Erlebnisse erzählten. Sie füllte in Abständen die Becher mit gemischtem Wein und blickte bisweilen zum Nachthimmel.
    »Du bist im Lager Raimunds von Toulouse, Thybold, nicht wahr?«, sagte Berenger. »Wie steht es bei euch mit Proviant?«
    »Wir hungern alle«, antwortete Thybold und zuckte mit den Schultern. Chersala hatte geholfen, mit Öl und heißem Wasser und ihrem Dolch Thybolds wuchernden Bart abzunehmen und sein Gesicht glatt zu schaben. Jetzt glänzte seine Haut im Licht der Flammen. »Sie sagen, jeder Siebte sei verhungert. Nur die hohen Herren haben ein wenig zum Beißen und, wie ich glaube, genug Wein.«
    Thybold hatte nach Jean-Rutgars schmerzlichem Abschied von Ragenarda und der Burgruine von Beausoleil noch acht Monate ausgeharrt und sich entlang der Küste, für seinen Unterhalt arbeitend und, da er ein Pferd besaß, als Gefolgsmann des einen oder anderen Herrn, durchgekämpft. Vor Genua verendete der alte Gaul, und Thybold ließ sich als Matrose und Schiffssöldner anwerben. Obwohl er den Reden der frommen Männer nicht recht glaubte, zogen ihn die Schätze des fernen Jerusalem und die silbernen Straßen und die goldene Beute in den Ländern der Heiden an. Es dauerte drei Monate, bis die Flotte zusammengestellt war und bei wechselnden Winden den Hafen von Sankt Simeon erreicht hatte. Dort kaufte er von der Hälfte seines Ersparten ein Pferd, sattelte es und fand den Weg in das Lager der Provençalen. Dort sagte ihm ein Knecht, dass ein junger Ritter, auch einer aus der Provençe, nach jemandem suche, der Thybold hieß.
    Rutgar, der in die Glut und die Flammen gestarrt hatte, hob den Kopf und sah, als sich sein Blick geklärt hatte, dass über die Zeltleinwand und die Gesichter von Berenger und Chersala ein seltsames grünes Licht zuckte. Er sprang auf und suchte die Quelle des Lichts. Als er sich neben Berenger aus dem Schatten herausduckte, sah er über den Zelten, zwischen den Sternen und viele Himmelslichter verdeckend, eine riesige Fläche, wie ein grünes Tuch, das im Wind langsam Falten schlug. Aber da war kein Windhauch, kein Sturm. Das Grün wurde greller, sein Leuchten nahm ab und machte einem durchdringenden Blau Platz, das sich über drei Viertel des Himmels ausbreitete und unhörbar umherrauschte.
    »Was ist das, Berenger?«, rief Chersala unterdrückt.
    Während sich im Lager hörbare Unruhe ausbreitete, lehnte sich Berenger zurück, betrachtete einige Atemzüge lang das Schauspiel wechselnder, wallender Farbtücher und antwortete unschlüssig: »Als Kind hab ich solche ... Himmelslichter einmal gesehen. In Britannien. Ich weiß es auch nicht. Alle Welt wird schreien: Wunder! Wunder! Aber nichts ist damals geschehen. Keine Pest, keine Missernte. So wird's hier auch sein.«
    »Alle fürchten sich«, sagte Thybold und starrte, von zuckendem Grün und Blau übergossen, die Erscheinung an. »Es ist unheimlich. Wie Meereswellen am Himmel, ohne dass sich ein Sturm auftürmt.«
    »Vielleicht gibt uns der Herr ein Zeichen, dass wir die Stadt stürmen sollen.« Rutgar sah zu den Fackelflammen, die sich auf den Stadtmauern bewegten, wie riesige Glühwürmchen. Der seltsame Glanz verwandelte die Mauern der Stadt, der Festung und des Palasts in eine unirdische Erscheinung, in das Bild eines Traums vom himmlischen Jerusalem. »Oder dass die fränkischen Ritter in aller Eile davonreiten sollen. Niemand wird es je mit Gewissheit sagen können.«
    Fast zwei Stunden lang dauerte das himmlische Schauspiel, dann krochen von Sonnenuntergang Wolken heran und löschten das Glühen und die Sternbilder aus. Zwischen Mitternacht und Morgen fielen einzelne schwere Tropfen aus den Wolken, dann begann ein leiser Regen, der Stunde

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