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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Schwärme schwarzer Vögel flatterten aus dem Schilf des Sumpfes auf und zerstreuten sich krächzend in alle Richtungen. Unzählige Stimmen wimmerten und schrien, Pferde hatten sich losgerissen und galoppierten durch die Lagergassen. Der General stürzte aus dem Zelt und bahnte sich einen Weg durch die verwirrten Kundschafter.
    »Vielleicht sollten die Mauern zusammenbrechen!«, rief Berenger, fluchte leise und versuchte, Staub und Schmutz von seiner Kleidung abzustreifen. »Das Bebenwunder des Herrn war nicht groß genug.«
    »Versündige dich nicht.« Chersala hielt sich an Rutgars Schulter fest und zog ihn zum Zelt zurück.
    Zwei Reiter preschten durch die Hauptgasse, hinter einem halben Dutzend gesattelter Pferde her, die in blinder Angst, die Augen wild rollend, durch das Palisadentor sprangen und zwischen Spannseilen, kalten Feuerstellen und Kochgerät umherstolperten. Ein Reiter riss sein Pferd zu spät in die Höhe; es geriet mit den Vorderhufen in einen Graben, brach mit dem Vorderkörper ein und schleuderte den Reiter über den Hals. Er kam aus den Steigbügeln frei, krümmte sich in der Luft zusammen, schlug gegen eine Zeltwand und rollte zwischen den Pflöcken und umstürzenden Wasserkübeln durch Staub und Feuerholz. Sein Pferd kam mit grellem Wiehern hoch und scheute, als Chersala nach den losen Zügeln griff.
    Rutgar war mit wenigen Schritten bei dem Gestürzten, packte seinen Arm und zog ihn hoch. Der Reiter schüttelte sich, drehte sich herum und stöhnte, winkelte den Arm an und fluchte in provencalischer Sprache. Sein Oberkörper und das Gesicht waren voller Schlammspritzer und Strohhalme, zwischen denen blaue Augen hervorstrahlten.
    Rutgar ließ den Arm los und trat zwei Schritte zurück. Sein Herzschlag setzte aus, er wandte sich hilfesuchend zu Chersala um. Sie blickte verwirrt vom Gesicht des Fremden zu Rutgar, dann starrte sie Berenger an, der langsam näher kam. Rutgar streckte die Arme. Seine Finger zitterten.
    »Ich kann's nicht glauben«, stieß er hervor. »Ich hab so lange gesucht ... nach dir. Du bist ... Thybold!«
    »Ich hab dich auch nicht erkannt«, sagte der schwarzbärtige Fremde mit der Stimme, an die sich Rutgar erinnerte, als habe er sie gestern das letzte Mal gehört. Thybold wischte sein Gesicht mit beiden Ärmeln ab. Jetzt sah Rutgar unter dem Schmutz das schwarze Haar und die Falkennase. »Jean-Rutgar! Tausendmal hab ich an dich gedacht, Stiefbruder. Aber dass wir uns hier ...«
    Er breitete die Arme aus. Die Brüder umarmten sich, schlugen einander auf die Schultern, lachten und murmelten Unverständliches, dann schoben sie einander auf Armeslänge zurück und starrten sich in die Augen.
    »Ich folge seit Clermont dem Kreuzzug, bin seit Köln am Rhein bei den Pilgern.« Rutgar sprach heiser und wischte die Tränen aus den Augenwinkeln. »Wie bist du hierhergelangt, Thybold?«
    »Mit dem Schiff von Genua. Im Hafen, in Sankt Simeon, hab ich einen Gutteil meines Geldes für dieses Pferd ausgegeben. Ich bin im Lager der Franzosen, in einem Zelt mit einem Gascogner und einem Mann aus der Provençe.«
    Kopfschüttelnd, mit glühendem Gesicht und belegter Stimme, sagte Rutgar: »Dies hier ... Cherso, nein: Chersala. Meine Liebste. Und das ist Berenger, unser Herzensfreund, der uns hilft, alles kann, alles weiß, ein großer, listiger Krieger.«
    Chersala umarmte Thybold und flüsterte: »Er hat wirklich tausendmal und mehr von dir geredet, Thybold. In allen Heeren, bei allen Pilgern, überall hat er nach dir gesucht. Ich muss mich verkleiden, als Mann, weil ...«
    Schrecken und Aufregung im Lager hielten an. Langsam beruhigten sich die Tiere, die Brände wurden gelöscht. Die Menschen warteten auf ein zweites Beben oder hofften auf Antworten, die ihnen die Furcht vor Gottes Zorn nahmen. Auch in der Stadt, deren Mauern und Türme doch nicht eingestürzt waren, hatte sich wildes Lärmen ausgebreitet. Pferdeknechte fingen die Tiere ein und zerrten sie zwischen den Zelten hervor.
    Berenger, der Thybold schweigend und prüfend betrachtete, nahm Chersalas Hand und brummte leise: »Bis auf Tatikios weiß fast jeder Kundschafter, dass du kein Mann bist, Schwester. Ich hab ihnen gesagt, dass ich jeden umbringe, der sich an dir vergreift.«
    Chersala und Rutgar schwiegen, erschreckt und ungläubig. Thybold grinste unsicher, und Berenger begann zu lachen. Dann legte Rutgar die Arme um Chersalas und Thybolds Schultern und zog die beiden zu seinem Zelt.
    Berenger packte Rutgars Handgelenk,

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