Jerusalem
einmal Gottfried oder Bischof Adhemar können's«, antwortete Rutgar und wischte die Federspitze trocken. »Das Heer Radwans ist, wahrscheinlich, vernichtet. Doch inzwischen hat ein neuer Spieler die Bühne betreten. Al-Afdal, der für den jungen Kalifen von Kairo regiert, hat den Rittern durch seine Gesandten die Heilige Stadt versprochen. Er will, wenn man ihn überzeugt, sich taufen lassen. Ein Muslim als Christ? Ich kann's nicht glauben.«
»Die Ägypter gegen die Seldschuken?« Thybold wiegte den Kopf. »Dann hätten wir Christen die größten Heere aller Länder.«
»Aber seit die Gesandten sich auf den Weg gemacht haben, von einigen unserer Ritter begleitet, weiß ich zumindest eines«, meinte Rutgar.
»Dann bist du klüger als ich«, sagte Thybold. »Was weißt du?«
»Dass es zwischen den muslimischen Emiren und Fürsten so wenig Eintracht gibt wie zwischen den Kuffarim, den ›Ungläubigen‹, wie die Muslime uns nennen.«
»So und nicht anders ist es!«, bekräftigte Thybold. »Ich habe gehört, dass die Tafuren bestimmte Dinge tun, die selbst Bohemund entsetzen würden«, fügte er halb ungläubig und schaudernd hinzu.
»Du meinst, dass sie das Fleisch der toten Seldschuken braten und fressen?« Rutgar lachte. »Es ist nur ein Gerücht. Glaube nicht alles, was man sich unter den Hungernden im Lager erzählt.«
Die Hungersnot, die alle Belagerer im gnadenlosen Griff gepackt hielt, war groß und dauerte schon viel zu lange. Die Hilfe aus Zypern reichte gerade einmal dazu, die Zahl der Verhungernden und Fliehenden nicht anwachsen zu lassen, den Hunger lindern konnte sie nicht.
Nach der Schlacht gegen Radwans Heer, während das zweite Kastell »La Mahomerie« neben dem muslimischen Friedhof, gegenüber einer halb verfallenen Moschee, aus Steinplatten und Quadern der Gräber errichtet wurde, hatte es leisen, aber erbitterten Streit zwischen Bohemund und dem General gegeben. Berenger hatte geflüstert, seines Wissens nicht sicher, dass Tatikios mit vielen Söldnern dem Heer des Basileus entgegenziehen und also den Ring der Belagerer verlassen würde.
»Du reitest erst seit wenigen Wochen mit den bewaffneten Pilgern, Thybold«, sagte Rutgar leise. »Die Reise nach Jerusalem ist ein furchtbarer Strudel aus Grausamkeit, Durst und Hunger, aus tausend Kämpfen und hinterlistiger Zwietracht zwischen den Herren, die im Namen des Herrn kämpfen und einander bekriegen. Nur weil uns Berenger geholfen hat, haben Chersala und ich überlebt.«
»Ihr liebt euch, nicht wahr?«
»Es gibt keine größere Liebe«, antwortete Rutgar. »Es ist anders, aber ebenso gut, nein, besser als die Jahre mit Ragenarda.«
»Das will etwas heißen«, murmelte Thybold und sah zu Boden. »Wir reden noch darüber. Schreib weiter.«
Rutgar nickte und zog den Korken aus dem Tintenkrüglein.
Jean-Rutgar sendet den Brüdern Odo und Rasso eine Nachricht von der Belagerung Antiochias.
Einige Tage nach dem Christfest, als Gottfrieds ehrgeiziger und von rasendem Mut beseelter Bruder Balduin zu Turbessel weilte, trafen Gesandte von Fürst Thoros aus Edessa ein, der das Heer des Kerboga von Mosul fürchtete, das Antiochias Belagerer angreifen und vertreiben sollte. Er glaubte zu wissen, dass sie auf dem Heerweg auch Edessa und andere Fürstentümer der Armenier überfallen würden. Balduin verlangte von Thoros, dass er ihn an Sohnes Statt annehmen und nicht als Söldner mit Geld und Geschenken an sich binden sollte. Nach einigem Zögern stimmte Thoros zu, ihn als Sohn und Erben einzusetzen; denn Thoros war kinderlos und bei seinen Untertanen nicht beliebt.
Zu Beginn des Hornung, nur von acht Rittern begleitet, ritt Balduin nach Edessa, entkam einem Hinterhalt der Seldschuken und ritt am 6. Tag des Hornung in Edessa ein, wo ihn das Volk mit lautem Jubel empfing. Fürst Thoros nahm ihn in einer befremdlichen Zeremonie als Sohn an, und auch Thoros' Gemahlin zog Balduin an ihre entblößten Brüste. Nachdem Balduin neben Thoros Edessa regierte, beschloss er, den Emir von Samosata anzugreifen. Am 14. des Hornung begann der Feldzug, an dem auch Konstantin von Gargar teilnahm, Thoros' Lehensmann. Zuerst eroberten sie das Dorf Sankt Johannes und besetzten es mit mutigen Rittern, um den Seldschuken die Stirn bieten zu können und sie das Fürchten zu lehren.
Herr Balduin und Konstantin von Gargar aber begannen eine Verschwörung gegen Thoros, die begierig von dessen Untertanen begrüßt wurde. Am 7. Tag des Lenzmonds griff die Bevölkerung
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