Jerusalem
Kerbogas Heer fürchteten, bereiteten sich auf den Waffengang vor. Gebete und Gesang der abendlichen Gottesdienste hallten bis an die Stadtmauern. In weitem Kreis um die Stadtmauern stiegen Rauchsäulen zum Himmel, und später leuchteten, als spiegelten sich die Sterne, unzählige Lagerfeuer und Fackeln.
Einige Stunden nach Sonnenaufgang hörten Rutgar, Chersala und einige Späher auf dem Weg, der nördlich ihres Lagers zur Schiffsbrücke führte, Hufschlag, Geschrei und Waffenklirren. Sie rannten zum Palisadentor und sahen die Fahnen Stephans von Blois', der halb vermummt im Sattel saß und seine Nordfranzosen anführte. Der Schwager von Robert, dem Herzog der Normandie, führte nicht mehr als zehn Dutzend Reiter und tausend Fußsoldaten an, die seinem Fahnenträger und ihm folgten. Rutgar erkannte drei Ritter wieder, mit denen Berenger und er während der Hunger- und Durstmärsche oft zu tun gehabt hatten: Evrart von Puiset, Caro Asini und Godefroi Guérin. Aus der Menge der Reiter hörte er:
»Nach Sankt Simeon - nur fort von dieser Stadt aus Hunger, Regen und Leichen!«
Stephan von Blois flüchtete nach Sankt Simeon? Rutgar war fassungslos. Die Schiffe Edgar Athelings hatten den Hafen längst verlassen und waren nach Laodikeia weitergesegelt. Vielleicht, sagte sich Rutgar, hatte Bohemund Stephan von Blois, den angeblich Kranken, mit einem dringenden Hilfeersuchen zum Basileus geschickt; Zypern und Konstantinopel waren, zu Schiff, nicht weit. Oder sollte Stephans Abzug schon mit Bohemunds großer Täuschung zu tun haben?
»Kümmere dich um dich selbst. Um Charsala und deine Männer«, murmelte Rutgar und ging mit großen Schritten durch die Lagergassen. Thybold war bei den Provençalen und wusste, was er zu tun hatte. Also ließ es Rutgar bei wenigen Andeutungen und konnte sicher sein, dass in den letzten Stunden der kommenden Nacht alle Späher und Kundschafter, samt der Handwerker, kampfbereit sein würden.
Eine Stunde vor Tagesende, in einem brennenden Sonnenuntergang in gewaltigen Wolkentürmen, verließen die Heere ihre Lager. Die Ritter zu Pferde, mit Fahnen und einem Wald aufgerichteter Lanzen, die Fußsoldaten und der Tross, zogen nach Osten und verschwanden zwischen den Hügeln. Um Mitternacht oder wenige Stunden danach, wusste Rutgar, würden die Fürsten die Befehle zur Rückkehr geben und die Schwerter aus den Scheiden ziehen.
Gott wollte es, hatte Bohemund gesagt.
In der westlichen Hälfte des Firmaments bedeckten Wolken die Sterne. Der Halbmond war bleich hinter den Bergen untergegangen. Im Schutz der Finsternis, von einem Hindernis zum nächsten, schlichen hintereinander fünf Dutzend Ritter bis zum Graben und hindurch und kletterten, die Festung »Tancreds Turm« im Rücken, auf handbreiten Pfaden und über nackten Fels hinauf zur Stadtmauer. Die schwarze, senkrechte Fläche schien aus dem gewachsenen Fels im Südwesten der Stadt hervorzuwachsen und bis zu den Sternen zu reichen. Fugen und Ritzen, aus denen an manchen Stellen grünende Pflanzen wucherten, dünsteten stechenden Moder aus.
Die sechzig Männer pressten sich im Schatten des Turmvorsprungs an die Quadern der Stadtmauer. In der Nähe der Torbrücken lauerten versteckt einige schwer bewaffnete Trupps. Auf den Mauern und den Türmen gab es nur noch wenige Fackeln; die Stadt schlief, die Seldschuken erwarteten eine ruhige Nacht. Die Nachricht vom abziehenden Heer - zwischen den Zelten brannten etliche Feuer, und weißer Rauch stieg im Westwind schräg zu den Sternen auf - hatte sich in Antiochia herumgesprochen; von den Dächern, der Mauerkrone und aus den Türmen waren die Kreuzesfahnen und der aufgewirbelte Staub stundenlang zu sehen gewesen.
Die Belagerer hatten Gesichter, Helme und Schilde geschwärzt und trugen Mäntel über den Kettenhemden. Sie schleppten Leitern aus Seilen, Leder und hölzernen Sprossen, deren Enden mit Stoff umwickelt waren, und wagten nicht, zu reden oder laut zu atmen. Im leeren Bachbett vor dem Hügel warteten Fußsoldaten mit langen Sturmleitern. Es war totenstill. Bisweilen schwirrten Funken aus den Fackelflammen der Wachen über die Mauerkante.
Fast unhörbar leise rutschte ein Seil aus einer Fensteröffnung des »Turms der Zwei Schwestern« herunter, schabte an den Ziegeln und senkte sich auf die Schultern eines Ritters. Fulk von Chartres tastete um sich, flüsterte eine Warnung und knotete seine Leiter an das Seilende. Die Ritter warteten; ihre Blicke suchten im Gesicht Bohemunds Furcht,
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