Jerusalem
voll Wut die Wohnungen der Gefolgsleute Thoros' an, und Balduin stürmte den Palast in der Zitadelle. Vergeblich bat Thoros um freien Abzug nach Melitene zum Vater seiner Gemahlin; er wurde am 9. Lenzmond vom Volk gefasst und in Stücke gerissen, als er zu fliehen versuchte. Am nächsten Tag forderten der Rat und das Volk von Edessa Balduin auf, die Herrschaft über das reiche Edessa zu übernehmen. Man übertrug ihm die Würde des »Grafen von Edessa« - als Erster aller fremden Fürsten hatte Balduin den Traum eines eigenen Reiches jenseits des Meeres wahr machen können.
Als er in Thoros' großen Palast einzog, fand er riesige Schätze, größer als in seinen kühnsten Träumen erhofft. Dies alles schilderte der Bote, den Balduin zu seinen Brüdern gesandt hatte. Als die Botschaft von Balduins neuer Macht und seinem Reichtum bei den Belagerern kundgetan wurde, versank sein jüngerer Bruder Eustachius in dumpfes Grübeln und tiefe Trauer.
Am 4. Tag im Lenzmond hatte eine englische Flotte den Hafen Sankt Simeon erreicht. Sie brachte italische Pilger und hatte in Konstantinopel Belagerungsmaschinen und deren Handwerker geladen. Edgar Atheling, ein verbannter Thronanwärter, befehligte die Schiffe. Der Kommandant der Flotte sowie Bohemund und Raimund, die eilends nach Sankt Simeon geritten waren, warben auf den Schiffen kampffähige Männer an und begleiteten die schwer beladenen Wagen nach Antiochia. Zwei Tage nach Ankunft der Flotte war der Zug von Seldschuken überfallen worden. Die meisten Begleiter waren davongerannt, einige von ihnen ins Lager, wo sie berichtet hatten, dass Raimund und Bohemund erschlagen worden seien.
Schnell hatte Gottfried von Bouillon seine Gefolgsleute zu den Waffen befohlen, um die wertvolle Ausrüstung zu retten. Als sie aufsaßen, machten die Seldschuken Antiochias abermals einen Ausfall, dem Gottfried aber standhalten konnte. Als Raimund und Bohemund, die beide noch am Leben waren, mit vielen Verwundeten das Lager erreicht hatten, vermochten sie Gottfried im Kampf zu helfen - wieder einmal mussten sich die Seldschuken in die Stadt retten.
Die Fürsten sammelten ihre Heerhaufen und ritten den Seldschuken auf der Straße zum Hafen entgegen. Sie ließen ihre Beute fahren und versuchten, die Brücke zu erreichen, aber fast alle wurden erschlagen, gefangen genommen oder verwundet. Man zählte mehr als siebenhundertfünfzig tote Ritter und Fußsoldaten, aber doppelt so viele tote Seldschuken, die von den Bewohnern der Stadt auf dem muslimischen Friedhof - der sich westlich von Gottfrieds Lager am Orontes-Ufer ausbreitete - begraben wurden. Die Belagerer ließen die Seldschuken gewähren, aber am nächsten Tag hatten sie die Toten wieder ausgegraben und sie des Goldes und silbernen Schmucks, der kostbaren Tücher und der Edelsteine beraubt.
Die Verpflegung und die unersetzlichen Teile der Maschinen wurden gerettet und ins Lager gebracht. Einen Tag danach rissen die Wolken auf, es hörte auf zu regnen. Am folgenden Tag hatten sich die Fürsten abermals zur Beratung zusammengefunden. Das Kastell gegenüber dem Brückentor, das Fürst Raimund von seinen Leuten und den unermüdlichen Tafuren errichten ließ, wuchs in die Höhe und erhielt den Namen »La Mahomeria« - so nannten die Franzosen die Moschee am Friedhofsrand -, und zu seinem Bau wurden die Grabsteine der Muslime verwendet. Man beschloss, am Sankt-Georgs-Tor ein zweites Kastell zu bauen, um auch diesen Zugang abzuriegeln, denn die Belagerer verfügten nun über Werkzeuge und ausgeruhte Handwerker. Als ob der Herr den Vorhaben der Belagerer zustimmen würde, blieb es auch die folgenden Tage trocken. Jetzt war Antiochia völlig umstellt; nur auf den schwierigen Gebirgspfaden konnten Wagemutige die Stadt betreten und verlassen.
Im Ostermond gelang es Tancred, der mit seinen Leuten nun das zweite Kastell, »Tancreds Burg« genannt, bemannte, eine mit Proviant für die Stadt schwer beladene Karawane abzufangen. Als der Frühling begann und sich überall üppiges Grün ausbreitete, wurde das Leben für die Belagerer in dem Maß leichter, wie es für Yaghi-Siyans Stadtbewohner schwieriger wurde. Der Emir wartete auf das Heer aus Mosul, das, von Atabek Kerboga geführt, den neuen Herrscher Graf Balduin in Edessa belagerte.
Zugleich näherte sich von den asiatischen Provinzen der Rhomäer das bisher siegreiche Heer des Johannes Dukas der Großen Heeresstraße, die der Basileus freigekämpft hatte. General Tatikios hatte Dukas zunächst
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