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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Ställe und alles, was wir brauchen. Wir kämpfen gegen die Seldschuken, nicht gegen Kinder und Frauen. Ihr habt verstanden?«
    Die Reiter nickten, murmelten, zügelten die Pferde. Sie trugen fast alle ihre Besitztümer bei sich und auf den Rücken der schwer beladenen Saumtiere. Die Handwerker, die keine Pferde besaßen, waren weit hinter der Reiterei zurückgeblieben und schleppten Truhen, Säcke und Werkzeuge. Unverändert standen die Zelte im verlassenen Lager.
    »Bleibt dicht beieinander!«, rief Rutgar und gab die Zügel frei. »Wir sind Tatikios' Späher, keine Ritter des Kreuzes.«
    Er hob den Arm, deutete zu den Mauertürmen und kitzelte seinen Rappen mit den Sporen. Der Reiter hinter ihm stellte die Fahne senkrecht und folgte ihm, die Gruppe schloss auf und trabte hinter Rutgar und Chersala auf die Straße hinauf, die Antiochia mit Sankt Simeon verband. Als die Kundschafter das westliche Ende der Brücke erreichten, sahen sie, dass das Tor weit offen war und einige Hundert Fußkämpfer in durcheinanderstrudelnden Haufen in die Stadt eindrangen.
    Der Hufschlag polterte auf der Brücke, die Reiter bahnten sich in einer auseinandergerissenen Linie einen Weg durch die Soldaten. Manche Fußsoldaten hängten sich an Sattelknäufe und Steigbügelriemen und ließen sich mitziehen. Auf den Mauern und den Tortürmen kämpften Ritter gegen Seldschuken. Die Torflügel aus unterarmdicken Bohlen voller Eisenbewehrungen schlugen in dröhnendem Takt gegen die Mauern. Als Rutgars Reiter die Flanken der Tortürme hinter sich gelassen hatten, erkannten sie, dass sich die Stadt im Aufruhr befand. Überall wurde gekämpft, geschrien, in mehreren Sprachen geflucht. Rufe wurden lauter und deutlicher, auch sie kamen aus verschiedenen Richtungen und Entfernungen:
    »Toulouse! Toulouse! Deus lo vult!«
    Und, schwächer: »Allāhu akbar!«
    Rutgar, der als Erster auf einer breiten Sandstraße an der Mauer des Palastgartens entlanghetzte, blickte hoch und sah auf einem der höchsten Türme die große purpurfarbene Fahne Bohemunds, die sich langsam im Morgenwind entfaltete. Auf dem sanft ansteigenden, bewaldeten Hang unterhalb der Sankt-Pauls-Kathedrale standen in großen Abständen die niedrigeren Gebäude, die Rutgar als Ziel ausgesucht hatte. Er und seine Kundschafter ritten unter den blütenübersäten Ästen einer Doppelreihe mächtiger Obstbäume dahin, zwischen deren Stämmen Mauern, aufgerissene Tore und Hausfronten zu sehen waren. Ein blutüberströmtes Kind hing über einer Mauer, von einem Pfeil durch die Schultern an die Wand genagelt. Menschen rannten schreiend um ihr Leben, von anderen, offensichtlich ihren Nachbarn, mit Messern und Knüppeln verfolgt. Hier brannte es, dort löschten Frauen ein aufflackerndes Feuer. Dampf waberte um Zäune und zwischen Büschen. Holz splitterte, Schmerzensschreie erschreckten die Reittiere, Chersala schrie Undeutliches, und schließlich brüllte Rutgar über die Schulter:
    »Hinter mir her! Dort vorn, beim Brunnenturm - dort gehören wir hin!«
    Er sprengte weiter, tief neben den Hals des Rappen gebeugt, sich mit dem Schild links schützend und das blanke Schwert in der Rechten. Blutspuren, verlorene Sandalen, Kleidungsstücke und abgeschlagene Füße, Unterarme und Hände waren im Sand der Straße zu erkennen. Es stank nach verbranntem Haar, schwelendem Horn und gewaltsamem Tod. Rutgar galoppierte weiter, durch ein offenes Tor in einen Garten hinein, wo weiße, lang gestreckte Gebäude zu sehen waren. Zwei seldschukische Reiter, die Rutgars Reiter sahen, rissen ihre Pferde herum und flüchteten hangaufwärts, zur Festung hin. Für wenige Atemzüge schwiegen Hörner und Trompeten. Dann fuhr ein einzelner Glockenschlag über den Aufruhr dahin, und sein Echo brach sich mannigfach an den Mauern.
    Rutgar und seine Truppe sprengten auseinander, ritten zum Haus und zwischen flatternden Hühnern und kreischenden Frauen zu Türen, Durchgängen und Fenstern. Die Männer sprangen aus den Sätteln und rannten ins Haus, in die Ställe und überallhin, wo sich Kinder und Frauen zu verstecken versuchten. Es gab keine Gegenwehr, als die Söldner General Tatikios' die Häuser durchstreiften und schließlich in Besitz nahmen. Im Lauf des Tages würde auch der Tross der Truppe mit allen Tragelasten den Weg in das neue Lager finden.
    Es schien bald, als sei der kleine Palast mit allen Nebengebäuden, ausreichend für mehr als hundert Bewohner, eine Oase der Ruhe. Die Söldner suchten sich Zimmer und Lager

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