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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Reißt die Tore auf!«
    Die Ritter glaubten Bohemunds dröhnenden Normannenruf zu erkennen. Neues Schwerterklirren. Ein dumpfer Fall, ein grelles Kreischen; wieder eine Fackel, die über den Sand rollte. Dann waren sie am Tor. Sie wussten nicht, ob es das Sankt-Georgs-Tor war oder das Oliventor, an dem sie vorbeigerannt waren. Binnen weniger Atemzüge war die Torwache niedergehauen. Pfeile heulten von der Mauer, prallten vom Stein ab, schlugen in die Schilde oder schepperten gegen Helme und Torriegel.
    Eisen bewegte sich kreischend, Balken schwangen herum, und Fäuste in Kettenhandschuhen zerrten die schweren Riegel zur Seite. Der rechte Torflügel drehte sich mit schrecklichem Knarren nach draußen, dann der linke. Ein Ritter rannte mit einer brennenden Fackel zwischen den anderen Bewaffneten hindurch, die sich wie die Rasenden gebärdeten. Er schwenkte die Fackel, deren Flamme durch den Luftzug wuchs und knisternd Funken sprühte, in Kreisen über dem Kopf und brüllte, mit überschlagender Stimme: »Das Tor ist offen! Deus lo vult! Wo sind unsere Heere?«
    Dann bewegte er, rasend schnell, die Fackel im Kreis vor sich, vom Boden bis hoch über seinen Kopf, immer wieder, in einer endlosen Bewegung, während er aus dem düsteren Schacht des Tors hinaushastete, über das taufeuchte Steinpflaster stolperte und zum Ende der Brücke, das vierhundert Schritt entfernt war.
    Jetzt erwachte die Stadt, zögernd, erschreckt, aber unaufhaltsam. Die ersten großen Sterne blinkten und erloschen. Inzwischen brannten tausend Lichter, den Hang hinauf zur Festung, in einzeln stehenden Häusern, Palästen und Gehöften und den Wegen dazwischen. Noch immer kletterten Ritter die Sturmleitern hinauf, schwenkten brennende Fackeln und ergossen sich als Rinnsal ins Innere der Stadt. Hufschlag und Wiehern galoppierender Pferde echoten zwischen Mauern, und einzelne Brände loderten auf. Aus allen Richtungen ertönten Schreie, Flüche und Anrufungen in vier, fünf Sprachen. Signalhörner schickten ihre lang gezogenen, klagend auffordernden Töne hierhin und dorthin und von den Mauern und den Öffnungen der Türme ins Land hinaus, als Ruf nach den Heeren der Belagerer.
    Das zweite, das Brückentor gegenüber dem scheinbar vollständig verlassenen Lager Roberts von Flandern flog krachend und splitternd auf. Auch an dieser Stelle waren die schlaftrunkenen Wächter, von den langen Stunden des Wachdienstes erschöpft, überrumpelt, überrannt und erschlagen worden. Die wenigen Christen, die in der Stadt verblieben waren, begriffen nach und nach, dass sich das Blatt gewendet hatte, und bewaffneten sich; zunächst stachen sie jene Muslime nieder, die sich in ihrer Nähe aufhielten. An anderen Stellen der Stadt sammelten sich seldschukische Krieger. Die Verteidiger wussten nicht, an welchen Orten sie die Eindringlinge finden würden; die Verwirrung nahm zu, Gebrüll und Waffengeklirr wurden lauter, die Schreie greller und zahlreicher.
    Es waren nicht viele Ritter, die sich in La Mahomeria und an der Straße nach Sankt Simeon verborgen gehalten hatten, aber alle spornten ihre Kriegsrösser. Im polternden und klirrenden Galopp, hinter dem knatternden Stoff ihrer Fahne, ritten sie zu der Stelle, an der unverändert Lichtkreise das Zeichen gaben. Die Heere, die am Abend abgezogen waren, trafen jetzt, von der Straße nach Aleppo her, vor den Mauern ein, im Osten Antiochias, beim Sankt-Pauls-Tor, zwischen Bohemunds Lager und den Zelten Roberts von der Normandie.
    Die Christen der Stadt fingen an, die Söhne und Töchter, Schwestern und Gattinnen der seldschukischen Besatzung zu morden und deren Häuser auszuplündern.
 
    Hinter den Bergen fächerten die ersten Sonnenstrahlen in den Himmel. Die Signale der Hörner und Fanfaren, die aus der Stadt, von den Mauern und von den Flussbrücken ertönten, mischten sich in den Lärm und das Geschrei. Hinter Mauern und an Hauswänden bildeten sich wirre Echos, die wie Flammen und deren Widerschein zuckten. Von seinem Platz, einen Steinwurf von La Mahomeria entfernt, sah Rutgar die Ritter, die im Galopp die Straße von Aleppo verlassen hatten und hinter dem Lager Gottfrieds von Bouillon auf das Brückentor zurasselten.
    Er wandte sich im Sattel um, blickte in Chersalas Gesicht und deutete nacheinander auf die Anführer der Kundschafter. »Der General hat Berenger seine Befehle gegeben, und ich hab sie von Berenger. Wir reiten durchs Brückentor, zu den großen Häusern bei den Weiden und den Bäumen. Dort gibt es

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