Jerusalem
Konstantinopel hatte Rutgar größere und schönere Gebäude im Besitz von Männern gesehen, die keine Fürsten, Bischöfe oder Generäle waren. Ausgedehnte Stallungen, gemauerte Vorratsschuppen, eigene Brunnen, Marmorböden und Vorhänge, Kissen und Betten aus schweren Stoffen, mannshohe Krüge voller Öl und Getreide, eine Küche, in der zwei Dutzend Diener schufteten, überall Schnitzereien, Farben, Truhen und Tischchen, und prächtige Blumen in den Gärten, Obstbäume und Beerenranken und unzählige Tauben in steinernen Taubenhäusern - im Frieden war Antiochia eine reiche, schöne Stadt. Unter den mächtigen Ästen der Kastanie herrschte kühles Halbdunkel, in das Rutgar ebenso eintauchte wie in seine Gedanken.
Während er bedächtig das eine und andere Pergamentblatt beschrieb, brach der Streit zwischen den Fürsten offen aus. Und es gab keinen General Butumites, der ihn hätte schlichten können. Nach langer Zeit hatte Rutgar genug Muße, um seine Gedanken niederzuschreiben; weder er noch Chersala, vom Morden und Schlachten angewidert, hatten geglaubt, mitten in Antiochia tagelang auf einer Insel der Ruhe ausharren zu dürfen.
Jean-Rutgar aus Les-Baux schreibt an Bruder Rasso und Bruder Odo zu Cluny in der Grafschaft Mâcon: Alle Fürsten hatten damals in Konstantinopel dem Basileus Alexios den Eid geleistet, nur Raimund von Saint-Gilles nicht. Der Eid aber besagte, dass die eroberte Stadt Antiochia dem Basileus zum alleinigen Besitz übergeben werden solle. Fürst Bohemund von Tarent verlangte nun, dass die Fürsten ihn zum neuen Herrscher der Stadt wählten, denn er habe sie nicht nur erobert, sondern auch verteidigt und überdies das riesige Heer des Atabeq Kerboga bezwungen. Und wo sei in allen jenen Hungermonaten der Basileus gewesen? Bohemund setzte alles daran, Antiochia zu seinem Eigentum zu machen. Die meisten Fürsten stimmten mit ihm überein, selbst Gottfried von Lothringen. Nur Raimund nicht, denn ihn beherrschte giftige Eifersucht auf Bohemund. Die Eroberung Jerusalems wäre dann, sagte auch Bischof Adhemar, nicht mehr gerechte Sache der gesamten, geeinten Christenheit, wie Papst Urban es wollte. Aus Sorge darüber schickte der Bischof von Le Puy die Grafen Hugo von Vermandois und Balduin von Hennegau zu Alexios; er hoffte, wie auch Graf Hugo, dass der Basileus in Eilmärschen nach Antiochia käme.
Gemeinsam hatten Bohemund, Raimund von Saint-Gilles, Gottfried von Bouillon und Robert von Flandern die Zitadelle besetzt und beherrscht. Bohemund, unterstützt von Gottfried und Robert, drängte Raimund hinaus, der darob tief erboste und den Palast Yaghi-Siyans sowie die befestigte Brücke besetzt hielt, obwohl er schwer krank war. Auch Bischof Adhemar wurde aufs Krankenlager geworfen. Die führerlosen Provençalen wurden von den anderen Truppen als nutzlose Nichtstuer beschimpft. Als aus Sankt Simeon viele Genuesen in die Stadt drängten, erteilte ihnen Bohemund am 14. Tag des Heumonds einen Freibrief für den Handel. Aber weil es in der Stadt keine Kämpfe mehr gab, machten sich viele kleine Grafen und Edelleute auf, um sich Balduin von Edessa anzuschließen, in der Umgebung zu plündern oder sich eigenes Land zu erobern. Boten haben berichtet, dass Herr Raimund Pilet, ein Limousiner, am 20. Tag des Heumonds die syrische Stadt Tel-Mannas besetzte, von den Syrern bejubelt. Die Syrer und die Armenier des Landes wollten weder die Seldschuken noch den Basileus als ihren Herrn; wir fränkischen Christen erschienen ihnen als das geringste Übel. Also schlossen sie sich Raimund Pilet an, als er sich anschickte, die Stadt Ma'arrat an-Numan, deren Weinberge, Ölbaumhaine und Feigengärten zu erobern. Die Fürsten und Bischof Adhemar hatten sich derweil geeinigt, am ersten Tag des Windmonds nach Jerusalem aufzubrechen.
Als sei die Eroberung Antiochias ein minderer Frevel, das Hinmetzeln ihrer muslimischen Bewohner die große Untat und das Zögern, den Weitermarsch nach Jerusalem in der Sommerhitze zu wagen, die größte Sünde gewesen, schlug uns der Herr in der Mitte des Heumonds mit einer Seuche, einem hitzigen Fieber, das ohne Unterschied jeden ansteckte und viele tötete. Zuerst wurden die Männer und Frauen von Müdigkeit befallen, dann von rasendem Kopfschmerz, dann froren sie und waren unfähig, zu reiten und zu arbeiten, während das Fieber in ihren Körpern hauste und sie verheerte. Auf der Brust und dem Bauch der Kranken bildete sich Ausschlag, dann vermochten die Kranken ihren Kot nicht mehr
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